📖 Kapitel 9 – Wurzeln und Wunden

Waldlicht und Gedankenflut
Der Himmel spannte sich wie eine ruhige Decke über das grüne Dach des Waldes. Sonnenflecken tanzten auf Moos und Blattwerk, als Lyra und Kael nebeneinander auf einem umgestürzten Baumstamm saßen. Kein Wort war bisher gefallen. Nur das Flattern der Blätter und das Rufen eines Eichelhähers durchbrachen die Stille.

Schließlich sagte Lyra leise:
„Dein Zuhause… fühlt sich an wie ein Museum.“

Kael grinste schief.
„Und deins wie ein Lagerfeuer.“

Sie lachte kurz, dann senkte sie den Blick.
„Meine Mutter war… komisch, oder?“

Kael zögerte, dann nickte er.
„Zurückhaltend. Fast so, als wollte sie gar nicht da sein.“

Lyra seufzte.
„Sie hatte früher eine Tierseele. Eine Katze. Keine große Raubkatze wie ich… eher eine Wildkatze. Zart, vorsichtig. Sie hat es aufgegeben. Als mein Vater fast… fast nicht mehr zurückgekommen wäre aus einem Kampf, hat sie entschieden, nie wieder zu wechseln. Aus Angst.“

Kael schwieg einen Moment. Dann:
„Und du? Hattest du nie Angst, als du dich das erste Mal verwandelt hast?“

„Doch. Aber es war auch wie… atmen. Als wäre ich endlich komplett.“


Wurzeln in der Luft
Kael sah hinauf zu den Baumwipfeln.
„Meine Mutter… war früher anders. Sie liebt Ordnung. Kontrolle. Aber sie hat mir nie verboten, ich selbst zu sein. Nur… nie darüber gesprochen.“

„Also war sie nie… eine von uns?“

Er zuckte die Schultern.
„Ich weiß es nicht. Vielleicht war sie es, aber hat es versteckt. Oder sie trägt die Verbindung nur in sich, ohne sie zu zeigen. Manchmal glaube ich, meine Tierseelen… kamen nicht von ihr, sondern wegen ihr. Als Gegenbewegung.“

Lyra sah ihn nachdenklich an.
„Vielleicht liegt es in uns allen. Die Frage ist nur, ob wir den Mut haben, es zuzulassen.“


Instinkt und Intuition
„Was ich gestern gesagt habe… über den Falken…“

Lyra hob eine Augenbraue.
„Du hast nicht gesagt, dass es ein Hybrid ist.“

Kael grinste verlegen.
„Ich dachte, meine Eltern vertragen das besser in kleinen Dosen.“

Sie lachte.
„Klug gedacht.“

Sein Blick wurde weicher.
„Weil es nicht nur ein Falke ist. Es ist mehr. Mensch und Vogel, irgendwie zugleich. Ich spüre manchmal den Wind unter meinen Gedanken, aber auch das Gewicht des Menschseins.“

„Wie zwei Stimmen, die lernen, im Gleichklang zu singen.“

Er nickte langsam.
„Genau das.“


Ein Ort zwischen den Welten
Sie standen auf und gingen weiter, langsam, ohne Ziel. Der Wald nahm sie auf wie alte Freunde.

Am Ufer eines kleinen Sees blieben sie stehen. Lyra sah in die Wasserfläche.
„Ich frage mich, wie viele Tierseelen es noch gibt. Ob jeder Mensch eine in sich trägt und nur die meisten sie nie wecken.“

Kael schwieg. Dann:
„Vielleicht. Oder manche brauchen jemanden, der ihnen zeigt, wie.“

Lyra sah zu ihm.

„So wie wir.“

Er lächelte.


Ende Kapitel 9

🌿 Inmitten des Waldes, zwischen Gesprächen und Erinnerungen, wachsen Wurzeln tiefer als je zuvor. Die Vergangenheit wirft ihre Schatten, doch im Licht der Freundschaft und Erkenntnis entstehen neue Wege. Vielleicht sind es nicht die Tierseelen allein, die sie besonders machen – sondern der Mut, ihnen zuzuhören.

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