📖 Kapitel 7 – Zwischen den Welten
Die Nähe, die keiner sah
Es war ein merkwürdiger Gedanke, der Lyra nicht losließ:
Wie nahe Kael all die Jahre gewesen war.
Ein paar Straßen nur. Zwei Dörfer, getrennt durch einen Streifen Wald, der für sie Heimat und für ihn einst einfach da war.
Er hatte nie darüber nachgedacht. Der Wald war ihm fremd gewesen – bis vor Kurzem.
Er war ein Mensch aus Asphalt gewesen, aus flimmernden Bildschirmen und stillen Nachmittagen.
Ein Einzelkind, das keine Scheu vor der Einsamkeit hatte.
Seine Eltern, ruhig, distanziert. Nicht kalt – aber zurückhaltend, wie Schatten an warmen Tagen.
Jetzt war der Wald sein zweites Zuhause.
Weil sie es war.
Ein Treffen, das kommen musste
„Ich will, dass du meine Eltern kennenlernst.“
Lyras Stimme war fest, aber ihre Finger nervös. Sie zupfte an den Ärmeln ihrer Jacke.
Kael blinzelte.
„Bist du sicher?“
„Mein Vater wird dich mögen.“
Pause.
„Meine Mutter… wird es versuchen.“
Er lachte leise, unsicher.
„Na dann.“
Das Haus der alten Pfade
Lyras Zuhause war eines dieser alten Häuser mit dicken Holzbalken, die nach Ofenwärme und Geschichten rochen.
Nicht groß. Aber tief.
Ihr Vater wartete schon auf der Terrasse, als sie näherkamen.
Er sah Kael sofort – und blieb für einen Moment still.
Dann trat er vor.
Ein Blick.
Ein Nicken.
Ein Händedruck, der fester war als nötig.
Ein Funkeln in den Augen.
„Du bist der Wolf“, sagte er.
Nicht fragend.
Nicht urteilend.
Einfach nur: wissend.
Kael nickte stumm.
„Endlich noch einer.“
Das Gespräch am Kamin
Drinnen knisterte das Feuer.
Lyras Mutter saß dort.
Sie erhob sich, stellte sich neben ihren Mann – einen Schritt weiter weg von Kael, als sie müsste.
Ihr Blick war aufmerksam. Nicht unfreundlich – aber schwer.
Eine Mischung aus Sorge, Misstrauen, und einem Anflug von bitte verletze mein Kind nicht.
„Du bist also… auch einer von ihnen“, sagte sie schließlich.
Kael sah zu Lyra, dann zurück.
„Ich… bin ich selbst. Und ja. Ich habe eine Tierseele.“
Ein knappes Nicken.
Es war nicht Ablehnung.
Aber auch kein Willkommen.
Alte Geschichten
Später, als Lyra mit ihrer Mutter in der Küche verschwand, saßen Kael und ihr Vater allein im Wohnzimmer.
Der Alte nahm einen Schluck aus seiner Tasse.
„Ich war auch ein Wolf. Früher.“
Kael sah ihn überrascht an.
„Was ist passiert?“
„Nichts Schlimmes. Ich wurde nur alt. Ich habe gewählt, die Gestalt loszulassen. Manche tun das irgendwann.“
Er sah in die Flammen.
„Aber das Rudel in einem bleibt.“
Kael spürte etwas in sich anspringen, wie ein innerer Ruf, auf den sein Innerstes reagierte.
Eine Wärme. Eine Verbindung.
„Du bist der erste, den ich treffe, der…“
Er stockte.
„…so ist wie ich.“
Der Mann nickte.
„Du wirst nicht der Letzte sein.“
Zurück unter vier Augen
Lyra sah ihrer Mutter beim Abtrocknen zu.
Sie war ruhig, aber in sich gekehrt.
„Er tut mir gut“, sagte Lyra leise.
Die Mutter hielt kurz inne.
„Er wird dich verändern.“
„Ich weiß.“
Ein Seufzen.
Kein Widerspruch.
„Dann hoffe ich, er weiß, was er tut.“
Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn
Als Kael ging, verabschiedete sich Lyras Vater mit einem Schultergriff, der mehr sagte als Worte.
Ihre Mutter nickte nur.
Doch in diesem Nicken lag ein stilles Versprechen:
Sie würde beobachten.
Und urteilen, wenn es Zeit war.
Lyra und Kael gingen gemeinsam zurück in den Wald.
Ihre Hände berührten sich leicht.
„Was denkst du?“, fragte sie.
„Dein Vater ist beeindruckend.“
„Und meine Mutter?“
Kael grinste.
„Ein Falke könnte sich von ihr einschüchtern lassen.“
Lyra lachte.
Und in dieser Nacht träumten beide nicht von Tierseelen oder Flügen –
Sondern von Stille.
Von Nähe.
Von Vertrauen, das wuchs wie Wurzeln unter alten Bäumen.
Ende Kapitel 7
🌲 Ein Zuhause wird nicht durch Mauern geformt – sondern durch die, die es betreten dürfen. Kael hat das erste Mal erfahren, wie sich das anfühlen kann. Und Lyra beginnt zu begreifen, wie viel von ihrer Familie in ihr selbst lebt.