📖 Kapitel 5 – Die Flügel des Adlers
Ein ferner Ruf
Der Sommermorgen war klar, der Himmel wie gespannte Seide über dem wogenden Grün des Waldes. Lyra lag bäuchlings auf einem dicken Ast, der hoch über einer Lichtung hing, und starrte in das Blau.
Ein kreisender Schatten zog seine Bahn über ihr – ein Adler. Groß, majestätisch, lautlos.
Kael saß weiter unten und kaute an einem Grashalm.
„Du starrst ihn an, als wärst du verliebt.“
Lyra blinzelte.
„Vielleicht bin ich das auch. In den Himmel. In diese Freiheit.“
„Reicht es dir nicht, wie du bist?“
Sie kletterte geschmeidig hinab, landete neben ihm.
„Ich liebe es, ein Puma zu sein. Die Kraft, die Lautlosigkeit. Aber… der Himmel ruft. Ich will fliegen.“
Der Wunsch wird stärker
Seit Tagen träumte sie davon: Weite Schwingen, aufsteigender Wind, das Rauschen der Lüfte.
Kael sah sie manchmal nachts schweißgebadet erwachen – mit zitternden Händen, einem Blick voller Sehnsucht.
„Vielleicht ist das nur ein Traum“, sagte er eines Morgens vorsichtig.
„Vielleicht ist es nicht… möglich.“
„Aber was, wenn doch?“
Ihre Stimme war fest.
„Wenn ich es nie versuche, werde ich es nie wissen.“
Die ersten Versuche
Auf einer der höchsten Klippen über dem Wald versuchten sie es.
Lyra schloss die Augen, spürte tief in sich hinein.
Sie konzentrierte sich auf den Adler – auf seinen Flug, seine Sicht, sein Herz.
Der Versuch war… chaotisch.
Ihre Schultern schmerzten, Knochen knackten – doch statt Schwingen bildeten sich nur unvollständige Ansätze, dann fiel sie rücklings zu Boden.
Kael war sofort bei ihr.
„Bist du wahnsinnig? Du kannst dich nicht einfach in die Tiefe stürzen, ohne sicher zu sein!“
„Du glaubst nicht, dass ich es kann“, sagte sie leise.
„Ich… habe Angst, dass du dich verlierst.“
Die Stimme in ihr
In der folgenden Nacht ging Lyra allein los.
Sie wusste, dass Kael ihr folgen würde – aber sie brauchte diesen Moment nur für sich.
Oben auf der Klippe stand sie wieder. Der Himmel war voller Sterne, der Wind kalt.
„Wenn du in mir bist“, flüsterte sie, „zeig dich.“
Dann ließ sie los. Nicht ihren Körper – sondern die Angst.
Sie hörte den Ruf – keinen Ton, sondern einen Sog, ein inneres Rauschen.
Wärme durchströmte sie. Nicht wie beim Puma, nicht wild und erdig, sondern weit, kühl, erhaben.
Sie spürte, wie ihre Knochen sich streckten, wie sich ihre Schultern weiteten. Ihr Gesicht wurde schmaler, ihre Augen schärfer.
Dann… Federn. Dunkelgolden.
Ein Schnabel.
Schwingen.
Sie war der Himmel.
Der Flug
Ein kurzer Anlauf – und sie hob ab.
Der Moment, in dem ihre Krallen den Boden verließen, war wie eine Explosion aus Licht.
Sie stieg auf, immer höher, getragen vom Wind. Unter ihr der schlafende Wald, winzige Baumwipfel, flüsterndes Blattwerk. Über ihr nur die Sterne und das Pulsieren des Lebens.
Sie schrie – ein lauter, klarer Adlerschrei – aus purer Freude.
Kael sieht sie fliegen
Kael hatte sie gefunden. Hatte sie verfolgt, weil er wusste, sie würde es wieder versuchen.
Als er den Schrei hörte, blickte er auf –
und sah sie.
Ein goldener Adler, weit über ihm, schwebend, kreisend, tanzend mit den Sternen.
Sein Herz schlug schneller. Nicht aus Eifersucht, nicht aus Angst – sondern aus einer tiefen Ahnung.
Er wusste es.
Auch in ihm schlummerte mehr.
Er streckte die Hand nach oben – nicht um sie zu rufen, sondern als stummes Versprechen:
Bald.
Ich werde dir folgen.
Ende Kapitel 5
🖊️ Lyra hat den Himmel berührt – und Kaels Herz entzündet. Der Himmel ist nicht länger fern. Die Tierseelen werden nicht mehr nur durch Wälder streifen – sie werden auch durch Lüfte gleiten.