📖 Kapitel 24 – Die Wächterin

„Du… du hast dich verwandelt?“, stammelte Kael.

Die Frau vor ihm war älter als er sie in Erinnerung hatte. Ihr Haar schneeweiß, doch ihre Haltung aufrecht, wie gespannt zwischen Himmel und Erde. Ihre Augen – noch immer die scharfen, wachsamen eines Bussards – musterten ihn eindringlich.

„Ich habe meine Menschengestalt nur ruhen lassen. Nicht vergessen“, sagte Thalya ruhig. „Und heute war der Tag, an dem ich sie wieder brauchte.“

Kael trat einen Schritt näher. Misstrauisch, verwirrt, neugierig. „Warum jetzt? Und was meinst du mit Wächterin der gebrochenen Bande? Was ist das hier, Thalya?“

Sie sah sich um, als ob die Wände lauschten. Dann deutete sie auf den gefangenen Luchs. „Er war einer der Ersten. Ein Sucher. Einer, der glaubte, dass man die Tierseelen verstärken könnte, wenn man sie von der Menschlichkeit trennt. Dass man… mächtiger wird, wenn man das Menschliche abstellt.“

Kael riss die Augen auf. „Und das ist der Preis? Eingesperrt in der Tierform?“

„Nein“, sagte Thalya leise. „Das ist die Strafe. Seine Experimente sind gescheitert. Er hat zu tief gegraben. Und andere haben ihn benutzt.“

„Wer?“, fragte Kael.

Sie zögerte. Dann: „Ein alter Kreis. Früher nur Gerüchte. Jetzt… Realität. Menschen ohne Tierseelen, aber mit einem Ziel: Kontrolle. Sie nennen sich selbst Die Ordner.“

Kael runzelte die Stirn. „Nie gehört.“

„Weil sie sich im Schatten bewegen. Sie sammeln Wissen. Reste alter Rituale. Pflanzen, die die Verbindung zur Menschengestalt kappen können. Techniken, die sie aus alten Zeiten rauben. Und… sie machen Versuche.“

Ein dumpfes Geräusch ließ beide aufhorchen. Der Luchs im Käfig hatte sich gegen die Gitter geschmissen – aber nicht aggressiv. Es war ein stummer Schrei. Seine Augen – so menschlich – flehten.

„Er will raus“, sagte Kael.

„Er kann nicht raus“, entgegnete Thalya hart. „Nicht so, wie er ist. Seine Menschenseele ist unterdrückt. Gefesselt durch etwas, das ich noch nicht verstehe.“

Kaels Atem ging schneller. „Dann müssen wir ihm helfen. Ihn zurückholen.

„Deshalb bin ich hier“, sagte Thalya. „Deshalb bin ich zurückgekehrt. Ich habe es lange vermieden, wieder Mensch zu sein. Aber ich konnte nicht länger nur sehen, wie sie unsere Art zerstören. Verdrehen.

Kael trat an das Gitter. „Wie viele sind es?“

Thalya sah ihn lange an.

„Mehr, als du denkst. Und einige… sind vielleicht nicht freiwillig bei ihnen.“

Er drehte sich langsam zu ihr um. „Du meinst…“

„Es gibt Tierseelenträger, die für sie arbeiten. Aus Angst. Oder, weil sie glauben, es sei richtig. Oder, weil sie verlernt haben, wer sie sind.“

Plötzlich hallte ein Knall durch das Gutshaus.

„Weg hier!“, rief Thalya. „Sie kommen!“

Kael verwandelte sich augenblicklich – die Falkengestalt war nun fließend, schnell, mühelos. Thalya hingegen rannte menschlich durch die Gänge, trotz ihres Alters wendig und geübt.

„Ich hole Verstärkung!“, rief Kael, noch bevor der Wind ihn trug.

Er raste über das Land, über Hügel und Bäume – zurück zu den anderen.

Doch als er sie fand, standen Lyra, Elin und Taro bereits inmitten eines brennenden Kreises. Schwarzer Rauch stieg auf. Und vor ihnen: drei Menschen in dunklen Gewändern, mit seltsamen Zeichen auf der Haut. Ihre Augen – leer. Ihre Stimmen – unnatürlich synchron.

„Die Tierseelen gehören uns.“


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Kapitel 24 – Ende
Wenn die Seele geteilt wird, bleibt nur die Entscheidung: Wer willst du wirklich sein – oder wer sollst du sein?

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