📖 Kapitel 21 – Schatten am Himmel

Der Morgen brach ruhig an. Nebel schwebte über den Wipfeln des Waldes, und der Himmel färbte sich langsam in zartes Blau. Kael hatte sich schon früh aufgemacht – allein. Seine Gedanken kreisten seit der letzten Nacht um Taro, um das Gefühl von Zusammengehörigkeit, das sich zwischen ihnen allen langsam webte. Und doch war da in ihm immer noch dieses Drängen. Der Wind, der rief.

Mit kräftigen Flügelschlägen stieß er sich von einem alten Baumstamm ab. In einem fließenden Übergang breitete er seine Schwingen aus – groß, majestätisch, kraftvoll. Seine Falkenhybrid-Gestalt war eine Erscheinung, die Staunen und Ehrfurcht hervorrief. Federkleid an Armen und Rücken, scharfe Klauen, durchdringende Augen – eine Gestalt zwischen Himmel und Erde.

Er liebte dieses Gefühl. Den Flug. Die Freiheit. Den Rausch der Geschwindigkeit.

Doch an diesem Morgen war etwas anders.

Er flog nicht lange, da bemerkte er eine Bewegung am Waldrand. Ein Mensch – ein Mädchen, vielleicht zehn, barfuß, mit einem Korb voller Kräuter. Sie sah zu ihm auf.

Und schrie.

Es war ein gellender, panischer Schrei, der sich durch den ganzen Hang zog. Der Korb fiel zu Boden, Kräuter flogen durch die Luft. Das Mädchen stolperte rückwärts, stürzte fast, ehe es sich umdrehte und blindlings davonrannte, immer wieder den Kopf drehend, als würde ein Monster sie verfolgen.

Kael blieb in der Luft stehen, verharrte in einem kreisenden Flug, während sein Herz schmerzte. Er war nicht das, wovor man fliehen musste. Und doch – er verstand.

Er war nicht klein. Nicht harmlos. Nicht gewöhnlich.

Langsam kehrte er zurück zur Hütte. Der Flug war nicht mehr kraftvoll, sondern nachdenklich, schwerer als sonst. Als er landete, wartete Lyra schon draußen. Sie hatte seinen Blick gesehen – und schwieg.

„Ich habe ein Kind erschreckt“, sagte Kael leise. „Sie hat mich für ein Monster gehalten.“

Taro trat aus dem Schatten des Türrahmens. „Sie hat gesehen, was sie nicht verstehen konnte. Das ist kein Fehler – das ist menschlich.“

Kael nickte nur. Doch dann hob er den Blick, entschlossener. „Ich will es lernen.“

Elin, die bisher ruhig hinter Lyra gestanden hatte, trat vor. „Was willst du lernen?“

„Mich ganz zu verwandeln. Nicht nur halb. Nicht als Mischwesen. Sondern wirklich… als Falke.“

Ein Raunen ging durch die Gruppe. Es war möglich – theoretisch. Doch ein Hybrid zu sein bedeutete, zwei Formen in sich zu vereinen. Und den Übergang zu einer reinen Tiergestalt zu finden, war eine Kunst, die selbst unter den Erfahrenen selten gemeistert wurde.

Lyra trat näher. „Es wird Zeit brauchen. Konzentration. Und… vielleicht Hilfe.“

Kael atmete tief durch. In ihm pochte der Wunsch, mehr zu sein – nicht um sich zu verstecken, sondern um frei zu sein. Frei, zu wählen. Frei, nicht als Bedrohung zu wirken, wenn er das nicht wollte.

„Ich werde dich begleiten“, sagte Taro plötzlich. „Du brauchst jemanden, der den Himmel kennt.“

Ein sanftes Lächeln breitete sich auf Kaels Gesicht aus. „Dann zeig mir, wie man fliegt, ohne Angst zu machen.“

Und so begann ein neues Kapitel – eines, das nicht nur Kraft verlangte, sondern Feingefühl. Und das Wissen, dass Macht nicht immer in Größe lag – sondern manchmal im Verzicht.


🪶
Kapitel 21 – Ende
Manchmal sind es nicht unsere Flügel, die uns heben – sondern der Mut, sie anders zu nutzen, als wir es gewohnt sind.

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