📖 Kapitel 20 – Stimmen der Nacht

Die Sonne war gesunken, hatte den Himmel in sanftes Purpur getaucht und die Schatten zwischen den Bäumen lang und weich werden lassen. In Elins Hütte knisterte das Feuer in der kleinen Feuerstelle, warf flackernde Muster an die Wände aus Holz und Lehm. Die vier saßen eng beisammen, umgeben von Tee, warmen Decken und dem leisen Summen der Nacht.

Taro war es, der schließlich zu sprechen begann. Ganz ohne Aufforderung, als hätte die Stille ihn eingeladen.

„Ich habe lange allein gelebt“, sagte er, seine Stimme ruhig, fast wie ein ferner Windhauch. „Nicht, weil ich es musste – sondern weil es leichter war, nichts zu erklären.“

Lyra sah ihn an, ihre Augen glänzten im Feuerschein. „Dein Tier in dir war schon immer der Rabe?“

Taro nickte langsam. „Er war da, bevor ich wusste, was es bedeutet, einen Teil von sich in einem Tier wiederzufinden. Ich war… acht? Vielleicht neun, als ich zum ersten Mal spürte, dass ich fliegen konnte, ohne es wirklich zu tun.“

Kael hörte aufmerksam zu. Er erkannte den Tonfall – nicht prahlerisch, nicht gebrochen. Nur ehrlich.

„Meine Familie verstand es nicht“, fuhr Taro fort. „Sie waren einfache Leute. Keine Geschichten von Tierseelen, keine Verbindungen zum Wald oder zur Luft. Als ich älter wurde, wurde es schlimmer. Ich begann, Dinge zu wissen, die niemand mir gesagt hatte. Ich hörte Dinge, spürte Gedanken wie Windzüge.“

„Du hast gehört, wie die Welt spricht“, flüsterte Elin.

Taro lächelte schwach. „Vielleicht. Oder ich habe einfach zu oft in den Himmel gestarrt, auf der Suche nach Antworten.“

Er stand auf, ging langsam zur Tür, öffnete sie. Die Nacht war mild, der Wald lebendig mit seinen Stimmen – Käuzchenrufe, leises Rascheln, das Atmen der Erde.

„Der Rabe fliegt, weil er sehen muss. Weil er verstehen will. Nicht weil er muss – sondern weil er es nicht lassen kann.“

Kael trat neben ihn, spürte die Worte nachhallen. „Und hast du verstanden, was du gesucht hast?“

Taro schwieg. Dann, nach einem Moment: „Ich weiß jetzt, dass ich nicht mehr allein suchen muss.“

Ein leises Geräusch ließ sie aufhorchen – Elins Schritt, kaum hörbar, aber für Taros Sinne wie ein Blatt, das ins Wasser fiel. Sie trat neben ihn, legte eine Hand auf seine Schulter.

„Wir alle tragen etwas in uns, das uns trennt – aber vielleicht ist genau das, was uns auch verbindet.“

Er drehte sich leicht zu ihr, musterte ihr Gesicht. Es war still, offen, und voller Wahrheit. Nicht die laute, aufdringliche Art von Wahrheit – sondern die, die in der Erde wächst.

„Du hast meinen Namen gekannt, ohne mich zu kennen“, sagte er leise. „Wie?“

Elin lächelte. „Ich weiß es nicht. Ich habe ihn gespürt. So wie ich dich gespürt habe, als du noch Rabe warst. Manche Dinge sind nicht für den Verstand gemacht.“

Taro nickte, seine Gedanken still. Und irgendwo in der Dunkelheit erhob sich ein Ruf – kein Bussard, kein Falke. Ein Rabe, der die Nacht begrüßte.

Drinnen legte Lyra eine neue Decke über das Feuerholz. Kael schloss leise die Tür. Und die Nacht blieb bei ihnen – nicht als Fremde, sondern als Wächterin.


🌙
Kapitel 20 – Ende
Manche Geschichten beginnen nicht mit einem Wort – sondern mit einem Blick, einem Gefühl, oder einem stillen Einverständnis, das tief in der Nacht ausgesprochen wird.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert