📖 Kapitel 19 – Der Blick von oben
Der Nachmittag hatte sich über den Wald gelegt wie eine warme Decke. Die Blätter flüsterten Geschichten im Wind, das Licht flackerte golden durch die Baumkronen, und in Elins Hütte war es still geworden – nicht aus Schweigen, sondern aus einem Gefühl der Ruhe, das sich zwischen den vier Gestalten ausgebreitet hatte.
Taro saß am Fenster, die Knie angezogen, der Blick in die Ferne gerichtet. Sein Rabe in ihm war wach, aufmerksam. Kael hatte sich gegen einen der Pfeiler gelehnt, während Lyra draußen im Gras lag, ihre Hände hinter dem Kopf verschränkt, die Augen auf den Himmel gerichtet. Elin bereitete in ihrer stillen Art ein einfaches Mahl aus Wurzeln, Beeren und Kräutern – jede Bewegung ein Tanz aus Gewohnheit und Bedacht.
Und dann war da der Schatten.
Ein dunkler Flügelschlag glitt über die Hütte. Nicht bedrohlich, nicht hektisch. Sanft. Kontrolliert. Wachsam. Kael hob sofort den Kopf. Er war es, der als erster die Bewegung am Himmel erkannte.
„Ein Bussard“, murmelte er.
Lyra blinzelte ins Licht, Taro stand langsam auf, kam näher ans Fenster. Auch Elin hielt inne.
Der Vogel kreiste in weitem Bogen, fast lautlos – doch etwas an seinem Flug war anders. Nicht nur anmutig, sondern gezielt. Als würde er nicht nur fliegen – sondern beobachten. Wachen.
Kael trat auf die Veranda, die Sonnenstrahlen zeichneten feine Linien auf sein Gesicht. „Ich kenne diesen Flug.“
„Thalya?“, fragte Lyra leise, an seiner Seite.
Er antwortete nicht sofort. Sein Blick folgte dem Bussard, der in einem Bogen verschwand, um kurz darauf aus einer anderen Richtung wieder aufzutauchen – ein Muster, ein Kreis, fast wie ein Tanz.
Taro trat hinaus, die Arme verschränkt. „Sieht aus, als hätte jemand ein Auge auf uns.“
Kael nickte langsam. „Oder auf mich.“
„Du denkst, sie hat dich gefunden?“ Elins Stimme war ruhig. Nicht überrascht, nicht aufgewühlt – nur wie eine Feststellung.
Kael schwieg einen Moment, dann antwortete er: „Ich bin mir nicht sicher, ob sie mich gesucht hat. Vielleicht hat sie einfach gespürt, dass ich nicht mehr allein bin.“
„Oder sie hat gespürt, dass du endlich bereit wärst, ihr zuzuhören“, sagte Taro leise.
Der Bussard kreiste ein letztes Mal und schwang sich dann in die Höhe, höher und höher, bis er nur noch ein Punkt war – und schließlich ganz verschwand.
Die Gruppe stand still.
Kael atmete tief ein. Etwas hatte sich verändert. Nicht greifbar, nicht laut – aber spürbar.
„Was wirst du tun, wenn sie zurückkommt?“, fragte Lyra.
„Ich weiß es nicht“, gab Kael zu. „Aber ich glaube, ich muss es herausfinden.“
Drinnen begann Elin wieder zu rühren, als hätte der Wald ihr die Antwort schon gegeben.
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Kapitel 19 – Ende
Manchmal ist ein Blick von oben alles, was es braucht, um den eigenen Weg klarer zu sehen – selbst wenn man ihn noch nicht zu gehen wagt.