📖 Kapitel 18 – Stimmen im Wind
Ein weicher, goldener Morgen tauchte den Wald in sanftes Licht. Sonnenstrahlen brachen sich an den moosbewachsenen Ästen, die Hütte lag still und friedlich inmitten eines Meeres aus Rascheln und Vogelgesang. Drinnen saßen sie nun zu viert. Nicht mehr nur Gäste – nicht mehr nur Reisende – sondern etwas, das langsam zu einer kleinen Gemeinschaft wuchs.
Lyra hatte es sich auf einem weichen Kissen bequem gemacht, ihre Augen glänzten noch vom Schlaf, während Kael auf dem Boden saß und mit einem der getrockneten Kräutersträuße spielte, die Elin von der Decke hängen ließ. Die Luft duftete nach Thymian, Fenchel und etwas, das sie nicht benennen konnten, aber angenehm war.
Taro saß auf einem der groben Holzstühle, etwas abseits, aber nicht distanziert. Er sagte noch immer nichts, sein Blick war wach, aufmerksam – wie ein Vogel, der noch nicht weiß, ob er bleiben oder weiterziehen soll. Doch als Lyra von ihrer ersten Wandlung sprach, wie der Puma sie mit Kraft erfüllt hatte und wie seltsam es sich angefühlt hatte, den eigenen Körper so verändert zu spüren, hob Taro plötzlich den Kopf.
„Ich wusste nie, ob ich gesucht habe oder nur geflohen bin“, sagte er leise.
Alle schwiegen.
Elin lächelte sanft und reichte ihm einen Becher mit dampfendem Tee. „Du hast gehört, was du hören musstest, sonst wärst du nicht hier.“
Er nahm den Becher, sah sie lange an – nicht misstrauisch, sondern als wollte er in ihrem Gesicht die Wahrheit lesen. Dann nickte er langsam.
„Der Rabe war immer da. Schon als Kind hab ich seine Stimme in meinem Kopf gehört, vor allen anderen. Ich hab ihn verdrängt, jahrelang. Dachte, ich spinne. Aber je älter ich wurde, desto klarer wurde er. Worte, Einsichten… Plötzlich wusste ich Dinge, ohne zu wissen woher. Ich konnte Gespräche vorausfühlen. Menschen einschätzen, fast durchschauen. Es wurde zu viel. Ich zog mich zurück. Und dann kam die erste Wandlung. Einfach so, mitten in der Nacht. Ich war auf einem Hochhausdach. Und dann… flogen meine Gedanken wirklich.“
Lyra spürte Gänsehaut auf ihren Armen. „Das klingt einsam.“
„Es war es“, antwortete er ruhig. „Bis heute Morgen.“
Kael lächelte – kaum sichtbar, aber warm. „Du wirkst, als hättest du uns schon eine Weile beobachtet.“
Taro zuckte mit den Schultern, seine Mundwinkel zuckten leicht. „Ich mag hohe Bäume.“
Elin schüttelte leicht den Kopf, als wolle sie etwas sagen – oder vielleicht wusste sie schon längst mehr, als alle anderen. Ihre Stimme war ruhig, beinahe flüsternd, als sie sagte: „Es ist kein Zufall, dass ihr alle hier seid. Der Wald hat uns zusammengeführt.“
„Und was nun?“, fragte Lyra. „Was macht man, wenn man vier Seelen mit so unterschiedlichen Wegen ist?“
Taro drehte den Becher in den Händen. „Man hört einander zu.“
Und genau das taten sie dann. Kein großes Ziel, kein Plan. Nur Worte, Gedanken, Erinnerungen, Fragen. Der Morgen wurde zum Mittag, der Tee ging zur Neige, das Feuer knisterte in leisen, unaufdringlichen Takten – und draußen kreiste ein Bussard hoch oben am Himmel.
🌙
Kapitel 18 – Ende
Manchmal beginnt das Neue nicht mit einem Schritt, sondern mit einem Moment des Verstehens – inmitten von Stimmen, die sich zuvor nie gehört hatten.