📖 Kapitel 15 – Elins Welt

Am nächsten Morgen waren die Bäume noch von Tau überzogen, als Elin den beiden anbot, sie ein Stück zu begleiten – in ihre Richtung, zu ihrem Zuhause. Kael war zunächst skeptisch, doch Lyra hatte sofort zugesagt. Vielleicht spürte sie instinktiv, dass Elins Welt Antworten bereithielt, die keine Worte brauchten.

Der Weg führte durch einen älteren Teil des Waldes, wo die Bäume breiter und knorriger waren. Moose bedeckten Felsen wie wärmende Decken, und das Licht tanzte in Grüntönen durch das Laub. Elin lief barfuß, als würde sie jeden Schritt mit der Erde abstimmen. Ihre Bewegungen waren lautlos, ihre Wahrnehmung schien jeden Windhauch zu erfassen.

„Du wohnst wirklich hier?“, fragte Kael irgendwann.

Elin lächelte. „Nicht hier hier. Noch ein Stück weiter. In einer alten Hütte, die meine Großmutter mir hinterlassen hat. Ich hab sie ein wenig hergerichtet. Keine Elektrizität, aber dafür gibt’s Kerzen, Kräuter und viel Zeit zum Denken.“

„Allein?“, fragte Lyra, halb erstaunt, halb bewundernd.

„Nicht einsam“, sagte Elin leise. „Es gibt Rehe, Vögel, Bäume, die mich kennen. Und ab und zu ein Mensch, der sich verläuft – oder findet.“

Die Hütte lag an einem kleinen Bach, umgeben von Brombeerhecken und hohen Farnen. Das Dach war mit Moos bewachsen, die Fensterrahmen verwittert, aber liebevoll gepflegt. Vor dem Eingang hing ein selbstgefertigtes Windspiel aus Federn, Zweigen und Bernsteinstücken, das bei jedem Luftzug ein sanftes Klingen erzeugte.

Drinnen duftete es nach getrocknetem Lavendel und Apfelringen. Ein kleiner Holzofen spendete Wärme, daneben standen Gläser mit getrockneten Kräutern in Reih und Glied. An der Wand hing ein gezeichnetes Bild – eine Hirschkuh mit einem Kind neben sich. Unterschrieben mit einer krakeligen Handschrift: „Für Elin – aus Liebe, deine Oma.“

Lyra trat langsam an das Bild heran. „Sie wusste es, oder?“

Elin nickte. „Sie hatte nie eine eigene Tierseele, aber sie… spürte sie. Sie war ein ruhiger Mensch. Niemand, der laute Geschichten erzählte – aber sie kannte das Flüstern der Dinge.“

Kael betrachtete die Hütte nachdenklich. „Du bist wirklich anders. Nicht schwächer, nur… weicher.“

„Ich bin nicht für Kämpfe gemacht“, sagte Elin, fast entschuldigend. „Aber ich sehe Dinge. Gefühle. Verbindungen. Ich spüre, wenn Tiere Angst haben. Oder wenn Menschen sich verloren fühlen.“

Sie sah Kael direkt an. „Wie du. Du trägst so viel Unruhe in dir, Kael. Deine Tierseelen drängen nach Freiheit – und gleichzeitig nach Ordnung. Du versuchst, dich zwischen Himmel und Erde zu entscheiden.“

Kael öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Dann nickte er nur.

Elin wandte sich Lyra zu. „Und du… Du läufst ständig gegen Mauern in dir selbst. Du bist mutig, aber auch müde vom Starksein. Deine Tierseelen… sie schreien nicht. Sie rufen.“

Lyra blinzelte. Ihre Stimme war leise: „Wie hörst du das alles?“

Elin lächelte. „Ich weiß es nicht. Ich spüre es einfach. Vielleicht ist das meine eigentliche Gabe.“

Eine Weile saßen sie zu dritt vor der Hütte, tranken Tee aus zerkratzten Tassen. Die Sonne wanderte weiter, und die Welt blieb still – als würde sie lauschen.

„Elin?“, fragte Lyra irgendwann. „Würdest du mit uns kommen? Auf unserem Weg?“

Elin zögerte. Ihre Finger glitten über die Lehne des alten Stuhls, an dem sie lehnte.

„Ich weiß nicht, ob ich für eine Reise gemacht bin. Aber… vielleicht bin ich für euch gemacht.“

Kael schnaubte leise. „Das war jetzt aber sehr poetisch.“

Elin grinste. „Ich bin eben kein Falke.“


Manche Wege beginnt man nicht, weil man bereit ist. Sondern weil man jemandem begegnet, der einen mitnimmt – leise, aber bestimmt.

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