📖 Kapitel 13 – Der leise Ruf

Die Tage wurden länger, und mit dem warmen Licht des Frühlings kam eine neue Unruhe in Lyra auf. Es war kein schlechter Zustand – eher ein Kribbeln unter der Haut, ein Gefühl, das sie aus der Luft und vom Boden zugleich zu rufen schien.

„Kael, hast du das auch gespürt?“, fragte sie, als sie nebeneinander durch den Wald liefen.

Kael blieb stehen, lauschte in die Bäume. „Du meinst dieses… Ziehen? Als würde etwas flüstern, ganz weit weg?“

„Genau das“, murmelte Lyra. „Es ist nicht von hier. Nicht aus unserem Teil des Waldes.“

Am Abend sprach sie mit ihren Eltern, und ihr Vater, der Wolf, hörte schweigend zu. Schließlich sagte er: „Wenn die Natur ruft, tut sie es aus einem Grund. Folge ihr. Aber geh nicht allein.“

Und so zogen Lyra und Kael los – ein neues Stück Welt erkunden, weiter weg als je zuvor. Felder wurden zu Hügeln, dann zu dichterem, unberührtem Wald. Der Boden war anders, weicher. Die Luft schien voller Geschichten.

Am dritten Tag spürte Kael es zuerst. „Da ist jemand.“

Lyra drehte sich langsam. „Ja. Sie beobachtet uns.“

Kein Laut, kein Schritt – aber das Gefühl war eindeutig. Jemand war da, ganz in der Nähe, und wollte nicht gesehen werden. Noch nicht.

Sie schlugen ihr Lager auf, gaben sich ruhig, offen. Zeigten keine Eile. Und als die Dämmerung kam und der Wind sich legte, trat sie hervor.

Ein junges Mädchen, kaum älter als Lyra. Sanft, fast wie aus Licht gewebt. Ihre Bewegungen waren leise wie Nebel über Moos.

„Ich heiße Elin“, sagte sie vorsichtig.

„Ich bin Lyra, und das ist Kael.“

Elin sah sie lange an, dann lächelte sie schüchtern. „Ich habe euch gespürt. Schon gestern. Und… ich glaube, ihr habt mich auch gespürt.“

Kael nickte. „Du bist wie wir.“

„Ich glaube… ja“, sagte sie zögernd. „Ich habe mich erst vor ein paar Wochen zum ersten Mal verwandelt. Es war kein Sturm. Kein Zwang. Es war eher wie ein langsamer Tanz. Als hätte ich mich nur erinnert, wer ich wirklich bin.“

„Eine Hirschkuh?“, fragte Lyra leise.

Elin nickte. „Ich laufe oft allein. Ich liebe das Flüstern der Bäume, die Wärme der Sonne auf dem Rücken… aber ich wusste nicht, ob ich je andere finden würde.“

Lyra lächelte sanft. „Jetzt hast du uns gefunden.“

Und so, unter dem goldenen Licht der untergehenden Sonne, entstand etwas Neues – zart und still, aber unendlich wertvoll.


Manche Seelen ruft der Wald nicht laut. Aber wenn man leise genug lauscht, findet man genau die, die man braucht.

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