📖 Kapitel 11 – Zwischenzeit
🌒 Nächte des Nachdenkens
Drei Tage waren vergangen, seit Lyra und Kael gemeinsam durch den Wald gewandert waren, schweigend und suchend, fragend und verstehend. Seither war jeder von ihnen wieder in seinem Zuhause, aber die Stille war geblieben – eine andere Stille als früher. Keine Leere, sondern eine wartende.
Lyra lag auf dem Dachboden ihres Elternhauses, wo der Wind durch die Ritzen pfiff und Staub sich in Sonnenstrahlen legte. In ihrer Hand drehte sie einen alten Anhänger – ein Katzenauge aus Glas, das ihre Mutter ihr einst geschenkt hatte.
Unten in der Küche hörte sie Tellerklappern.
Sie stand auf.
🪶 Spuren der Vergangenheit
Ihre Mutter saß allein am Tisch. Eine dampfende Tasse Kräutertee vor sich, ihre Finger umklammerten sie, als wäre es ein Stück Halt.
„Mama?“, begann Lyra zögerlich.
Die Frau sah auf, ihre Augen müde – aber nicht kalt.
„Warum hast du nie mehr von deiner Tierseele erzählt? Von… der Wildkatze?“
Ein Zittern ging durch ihre Schultern. „Weil ich sie nicht verlieren wollte.“
Lyra setzte sich. „Aber du hast sie doch aufgegeben.“
„Nicht freiwillig. Ich habe sie verdrängt. Eingeschlossen. Ich dachte, wenn ich sie vergesse, muss ich nie wieder Angst haben.“
„Angst, dass Papa nicht zurückkommt?“
Ein stummes Nicken.
Dann, nach einem langen Moment: „Meine Katze war schnell, wendig, leise. Aber nicht stark genug, um die Schatten aus dem Wald fernzuhalten.“
Lyra schluckte. „Aber ich bin stärker. Und trotzdem… ich will nicht nur kämpfen. Ich will verstehen.“
Ihre Mutter legte eine Hand auf ihre. „Dann geh weiter. Frag. Hör zu. Aber pass auf dich auf.“
🌬 Aufwinde des Erkennens
Am anderen Ende des Dorfes stand Kael vor dem alten Fotoalbum seiner Mutter. Bilder aus einer anderen Zeit, bevor der Ernst Einzug hielt. Seine Mutter trat gerade ein, die Hände noch feucht vom Abwasch.
„Du hast nie erzählt, ob du auch… so bist. Wie ich.“
Ein langer Blick. Dann setzte sie sich zu ihm. „Ich habe mich nie verwandelt. Aber ich habe sie gespürt. In Träumen. In Momenten. Als hätte ich Flügel im Rücken, die nie wachsen wollten.“
Kael schwieg einen Moment. „Also… irgendwo in dir war doch etwas?“
„Vielleicht. Aber nicht so wie bei dir. Bei mir blieb es… fern. Wie ein Lied, das man nur durch eine Wand hört.“
„Und die Schwester von Papa?“
Ein schwaches Lächeln. „Sie war ein Bussard. Wild und unberechenbar. Hat nie lange an einem Ort gelebt. Aber sie konnte fliegen – wirklich fliegen. Sie war stolz darauf.“
Kael senkte den Blick. „Dann kommt es vielleicht doch von beiden Seiten. Auf Umwegen.“
Sie legte eine Hand auf seine Schulter. „Oder du bist der Erste, der sich traut, alles zuzulassen.“
🪵 Licht im Geäst
Am Abend saßen Kael und Lyra wieder gemeinsam auf dem alten Baumstamm. Kein Wort wurde gewechselt – es brauchte keins.
Ihre Wege waren verschieden gewesen. Aber jetzt liefen sie nebeneinander weiter – wie Spuren im weichen Boden, unterschiedlich geformt, aber in dieselbe Richtung führend.
Ende Kapitel 11
🌲 Zwischen Gestern und Morgen liegen die Fragen, die niemand für uns beantworten kann – nur wir selbst. Und während manche Antworten in alten Geschichten ruhen, wachsen andere erst im Schatten der Gegenwart. Kael und Lyra wissen nun: Die Suche beginnt nicht draußen. Sondern innen.