📖 Kapitel 19: Die Tiefe in dir
Das Wasser war still – doch es war das gefährlichste Schweigen, das Jennifer je gespürt hatte.
Der Raum mit dem Kristall hatte sich verändert. Wo eben noch weiches Licht die Halle erleuchtet hatte, war nun Dunkelheit. Keine bedrohliche, sondern eine… innere. Als hätte das Herz Aqualyns sich in sie zurückgezogen, um ihnen etwas zu zeigen, das sie nur sehen konnten, wenn nichts anderes mehr sichtbar war.
Die Wasserwesen-Gestalten hielten. Ihre Körper waren bereit – Kiemen, Flossen, Haut, die den Druck der Tiefe mühelos ausglich. Und doch war da ein Widerstand. Nicht von außen. Von innen.
„Warum kann ich mich nicht bewegen?“ fragte Kael. Seine Stimme hallte dumpf, nicht über den Mund, sondern über Gedanken.
„Weil du noch nicht fließt,“ antwortete das Wesen aus Erinnerung. „Verwandeln ist nicht dasselbe wie verstehen.“
Jennifer fühlte, wie ihr Herz raste – selbst in ihrer neuen Gestalt. Ihre Finger, von feinen Schwimmhäuten durchzogen, bebten leicht. Sie war eine Meerjungfrau. Und doch… sie fühlte sich nicht wie eine.
„Was soll das heißen?“ fragte sie. Ihre Stimme klang rauer als sonst.
„Ihr habt euch die Form gegeben. Doch habt ihr auch den Mut, euch ihr hinzugeben?“
Ein Bild erschien vor ihr – sie selbst, wie sie im flachen Wasser am Ufer eines Sees stand. Die Beine im Wasser, der Rest an Land. Zögernd. Halbwandlerin. Halb Vertrauen.
Und sie erkannte es plötzlich: Ihre Form hatte sich verändert, ja. Aber ihr Geist war geblieben, wo er war – an der Oberfläche. An der Kontrolle. An der Angst vor dem vollständigen Eintauchen.
Der Kristall pulsierte wieder – diesmal schneller.
Jeder von ihnen wurde in eine eigene Blase aus Erinnerung gezogen.
💠 Kael sah sich selbst inmitten eines Sturms – ein Orca, kraftvoll, laut, stolz. Doch in seinem Herzen war er noch immer der Junge, der um Anerkennung rang. Sein Wasserwesen wollte frei sein – doch Kael hielt es zurück, um nicht verletzbar zu sein. Er musste lernen, loszulassen. Nicht nur zu kämpfen, sondern zu vertrauen – selbst dem, was er nicht verstand.
💠 Elin war ein Delfin, wie geschaffen für das Wasser. Doch ihre Gedanken hingen an Wurzeln, an Erde, an Wald. Der Ozean war frei – aber auch unberechenbar. Ihre Aufgabe war nicht die Gestalt – sondern der Mut, sich auch dort heimisch zu fühlen, wo kein Baum stand, kein Pfad wies. Freiheit war schön – aber auch beängstigend.
💠 Taro trug seine neue Form wie eine Maske. Der Mantarochen war majestätisch – und doch bewegte sich sein Geist wie ein Mensch in einem zu weiten Mantel. Tief in ihm lag die Angst, sich im Wasser zu verlieren. Seine Kraft war die des Überblicks – doch hier, in der Tiefe, gab es keine Höhen. Seine Herausforderung war, sich auch ohne Perspektive zurechtzufinden. Mitten im Jetzt.
💠 Jennifer war die Einzige, die noch zwischen den Welten schwankte. Ihre Meerjungfrauengestalt war elegant, fast selbstverständlich. Doch innerlich fühlte sie sich wie ein Mensch mit Fischschwanz. Sie musste lernen, das Wasser nicht als „Fremdort“ zu sehen – sondern als Heimat. Es nicht zu ertragen, sondern zu bejahen. Nicht zu überleben, sondern zu tanzen.
„Wie…?“ hauchte sie.
„Indem du aufhörst zu fragen, wie. Und beginnst zu fühlen, wofür.“
Und dann geschah es. Ein Flackern. Ein Echo in ihren Köpfen. Kein Angriff. Keine Prüfung. Nur… ein Öffnen.
Das Wasser um sie herum begann zu singen. Keine Worte. Eine Melodie. Jede Note war Erinnerung. Jede Welle ein Gefühl.
Und mit einem Mal – ließen sie los.
Kael stieß sich kraftvoll ab, drehte sich wie ein Orca, ließ sein brüllendes Wollen in sanftes Spiel kippen.
Elin sprang wie ein Delfin durch einen Lichtring, lachte, lachte wirklich – frei.
Taro drehte Kreise, seine Schwingen weit geöffnet, die Tiefe umarmend statt messend.
Jennifer schloss die Augen – und öffnete sich.
Sie spürte nicht mehr den Widerstand in ihrem Rücken, nicht mehr das Ziehen in der Brust. Sie war da. Ganz. Im Wasser. Nicht mehr halb. Nicht mehr zögerlich.
Nur noch… sie selbst.
Der Kristall hörte auf zu pulsieren. Das Licht kehrte zurück. Und mit ihm… Aqualyn.
Das Wesen aus Erinnerung verbeugte sich.
„Nun könnt ihr gehen. Oder bleiben. Die Wahl ist nicht länger eine Flucht – sondern eure.“
Eshan, der schweigend alles beobachtet hatte, lächelte.
„Ihr habt den Wandel nicht bestanden. Ihr habt ihn umarmt.“
Und in der Ferne, jenseits der Stadt, begann ein neuer Pfad zu leuchten.
Nicht nach oben. Nicht nach unten.
Sondern… weiter.
✨ Ende von Kapitel 19
Nächstes Mal:
Was liegt jenseits von Aqualyn? Und was geschieht, wenn ein neuer Ruf ertönt – aus einer Richtung, aus der niemand ihn erwartet hätte…? 🐚🌊💫