📖 Kapitel 2 – Träume der Verwandlung

Die Nacht danach
Die Dunkelheit im Zimmer war undurchdringlich, aber Lyra lag wach. Ihre Gedanken kreisten um das, was ihr Vater gesagt hatte. „Du wirst es verstehen, wenn die Zeit reif ist.“
Aber wann war diese Zeit? War es jetzt?
Ihr Herz pochte laut in der Stille. Noch nie hatte sie sich so seltsam lebendig gefühlt.

Als sie endlich einschlief, war es, als würde sie sofort in eine andere Realität gezogen.


Der erste Verwandlungstraum
Der Wald war wieder da. Aber diesmal war es kein Traum, in dem sie rannte. Nein – diesmal fühlte sie jeden Grashalm unter ihren Pfoten, jede feine Vibration im Boden. Sie war nicht mehr Lyra – nicht ganz.

Sie war schwerer, ihr Körper war größer. Ihre Atmung war tiefer. Ihre Sinne waren scharf, gestochen klar. Sie sah das Mondlicht zwischen den Bäumen tanzen. Hörte das leise Knacken eines Rehs, das in weiter Ferne durch das Unterholz ging.
Sie senkte den Kopf, trank aus einem Bach – ihre Zunge schabte über das kalte Wasser.

Dann sah sie sich.
Im klaren Spiegel des Baches – ein weiblicher Puma.
Ihr Fell war leicht silbrig, durchzogen mit einem warmen Goldschimmer. Die Augen: exakt ihre – bernsteinfarben, wissend.

Doch dann veränderte sich etwas.
Ein Kribbeln im Rücken, das Gefühl, als würde ihr Körper sich gegen sie wenden. Das Bild im Wasser flackerte – mal Mensch, mal Puma, dann wieder nichts. Sie verlor das Gleichgewicht, fiel ins kalte Wasser – und schreckte auf.


Am Frühstückstisch
Der Morgen war grau, und Lyra starrte in ihr Müsli, ohne einen Löffel angerührt zu haben.
Ihr Vater beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Schließlich schob er seinen Stuhl zurück und sagte nur:
„Komm mit.“

Sie folgte ihm in sein Arbeitszimmer – einen Raum voller Bücher, alter Landkarten und seltsamer Artefakte, die sie nie richtig hatte einordnen können.
Er deutete auf einen Sessel, setzte sich ihr gegenüber.

„Du hast geträumt, oder?“
Sie nickte langsam.
„Ich war… ein Puma. Es war nicht einfach nur ein Traum. Ich konnte alles fühlen. Ich war wirklich dort.“

Er atmete tief durch, als hätte er auf genau diesen Moment gewartet.
„Dann beginnt es.“


Die Geschichte der Tierseelen
„Es gibt Menschen“, begann er ruhig, „die mehr sind als nur Fleisch und Blut. In ihnen wohnt eine alte Kraft – eine Tierseele. Ein Echo ihrer wahren Natur.“

Er griff nach einem alten, abgegriffenen Buch, das er wie einen Schatz öffnete. Die Seiten waren vergilbt, aber voller Zeichnungen von Menschen in Tiergestalt – Bären, Adler, Wölfe… und Pumas.
„Diese Gabe ist alt. Sehr alt. Unsere Familie trägt sie seit Generationen.“

„Und du? Du hast dich auch verwandelt?“

Er nickte.
„Meine Seele ist mit einem Wolf verbunden. Ich habe viele Jahre gebraucht, um sie zu verstehen… und noch länger, um sie zu kontrollieren.“

„Warum sagt Mama nie etwas?“

Ein Schatten huschte über sein Gesicht.
„Sie hat ihre Gründe. Ihre Tierseele war… schwerer zu tragen. Sie hat sich entschieden, das hinter sich zu lassen.“

Lyra spürte einen Kloß im Hals. „Und ich? Was passiert mit mir?“

„Zuerst wirst du träumen. Dann wirst du fühlen. Und irgendwann… wirst du dich wirklich verwandeln.“

„Aber wie?“
„Nicht mit Kraft. Nicht mit Gewalt. Es beginnt in deinem Inneren. In deinen Gedanken. Du musst lernen, dich nicht zu fürchten – und dich selbst zu erkennen.“


Lyras erster Versuch – in Gedanken
Später an diesem Tag saß sie allein auf ihrem Bett, die Beine verschränkt, die Augen geschlossen. Sie versuchte, den Puma aus ihrem Traum heraufzubeschwören. Sie stellte sich vor, wie ihre Muskeln sich verändern, ihr Körper sich dehnt, ihr Atem rauer wird.

Doch es war schwer. Ihre Gedanken schweiften ab. Mal fühlte sie sich wie ein Kind, das so tat, als sei es ein Tier… dann wieder spürte sie tatsächlich etwas: ein leises Brummen in ihrer Brust, ein Gefühl von Kraft.

Einmal meinte sie sogar, ihre Finger wären kürzer – wie Pranken. Aber als sie die Augen aufschlug, war da nichts. Alles war wie zuvor.
Und doch… war da etwas anders.
In ihrem Spiegelbild schien ein Glanz zu liegen – ein Hauch von Wildheit in ihren Augen.


Am Abend mit dem Vater
„Ich hab’s versucht“, sagte sie leise, als sie mit ihrem Vater auf der Veranda saß. „Aber es passiert nichts.“

Er lächelte.
„Geduld. Die Seele kennt ihren Weg. Du musst lernen, ihr zuzuhören. Es ist wie ein Fluss – du kannst ihn nicht zwingen, schneller zu fließen. Aber du kannst lernen, in ihm zu schwimmen.“

Er reichte ihr ein altes Lederband mit einem Anhänger: ein stilisierter Puma, in Silber geschnitzt.
„Das gehört dir. Es wurde über Generationen weitergegeben – immer an die nächste, die erwacht.“

Lyra hielt es fest umschlossen.
„Ich will es lernen. Alles.“

„Und du wirst es“, sagte er. „Aber denk daran: Stärke beginnt nicht in den Krallen oder Zähnen. Sie beginnt im Herzen.“


Ende Kapitel 2
🖊️ Lyra steht an der Schwelle – nicht mehr Kind, noch nicht Tier. Der Ruf ihrer Seele ist laut, aber der Weg dahin ist einer der Geduld, Erkenntnis… und Mut.

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