📖 Kapitel 1 – Der Ruf der Tiere
Einführung in Lyra
Der Himmel war klar, als die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster ihres Kinderzimmers krochen. Lyra lag noch unter der warmen Decke, halb wach, halb in einem Traum versunken, in dem sie durch einen dichten Wald rannte. Ihre Beine waren schnell, ihre Bewegungen geschmeidig – aber das Merkwürdigste war: Sie hatte in dem Traum keine Schuhe an. Ihre Füße waren Tatzen.
Ein plötzlicher Vogelruf vor dem Fenster riss sie aus dem Schlaf. Sie blinzelte, schüttelte die wirren Bilder ab und setzte sich auf. Ihre bernsteinfarbenen Augen – ein ungewöhnlicher Ton, fast golden – fingen das Licht ein. Die zwölfjährige Lyra war klug, neugierig und oft ein wenig zu sensibel für ihr Alter. Doch heute spürte sie etwas anderes. Etwas… das sich nicht in Worte fassen ließ.
„Lyra? Bist du wach?“
Die Stimme ihrer Mutter hallte von unten. „Zieh dich an, wir fahren heute in den Tierpark!“
Sie lächelte. Endlich wieder Tiere sehen – das war immer das Beste an solchen Tagen. Was sie jedoch nicht wusste: Dieser Tag sollte ihr Leben verändern.
Der Tiergarten – Begegnung mit dem Puma
Der Zoo war belebt, voll mit Familien, Kinderlachen, dem Duft von Popcorn und dem fernen Brüllen eines Löwen. Doch Lyra nahm kaum etwas davon wahr. Seit sie das große Tor durchschritten hatten, fühlte sie sich seltsam… aufgeregt, aber nicht wegen der Tiere – es war ein inneres Kribbeln, ein leises Raunen tief in ihr.
Sie gingen an Affen, Zebras und bunten Vögeln vorbei, bis sie schließlich zu einem ruhigeren Gehege kamen. Dort lag er. Ein majestätischer Puma, eingerollt im Schatten eines Felsens, die Augen geschlossen, aber mit einer Präsenz, die den Raum füllte.
Lyra blieb wie angewurzelt stehen.
Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Nicht aus Angst – es war etwas anderes. Vertrautheit. Als hätte sie ihn schon einmal gesehen… oder war sie ihm gewesen?
„Mama… schau mal“, flüsterte sie und trat näher ans Geländer. „Er ist wunderschön.“
Ihre Mutter sah sie kurz an, und in ihren Augen huschte ein Ausdruck vorbei, den Lyra nicht kannte – Furcht? Schmerz?
„Ja… das ist er“, sagte sie ruhig. „Komm, wir gehen weiter.“
Aber Lyra konnte sich nicht lösen. Der Puma öffnete langsam die Augen. Goldgelb – fast wie ihre. Und für einen Moment… nur einen winzigen, kaum merklichen Moment… glaubte Lyra, dass er sie erkannt hatte.
Die erste Konfrontation – zu Hause mit den Eltern
Am Abend saß Lyra still am Esstisch. Ihr Teller war kaum angerührt. Sie konnte nicht aufhören, an den Puma zu denken – an den Blick, das Gefühl, das in ihr aufgestiegen war. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus.
„Mama… warum hab ich mich heute beim Puma so komisch gefühlt? Als hätte ich… eine Verbindung zu ihm.“
Ihre Mutter erstarrte. Sie legte das Messer aus der Hand und sah kurz zu Lyras Vater – ein kurzer, ernster Blick. Dann zwang sie sich zu einem Lächeln.
„Das ist in deinem Alter normal. Viele Kinder fühlen sich zu Tieren hingezogen. Du hast eben Fantasie.“
„Aber es war nicht wie sonst“, beharrte Lyra. „Ich hab gespürt… irgendwas in mir hat sich bewegt. Ich weiß nicht, wie ich’s sagen soll, aber… ich hab mich fast verstanden gefühlt.“
Ihre Mutter stand abrupt auf.
„Es ist spät. Wir reden morgen weiter. Geh schlafen, Liebling.“
Lyra sah ihr hinterher – verwirrt, verletzt.
Dann spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Ihr Vater hatte sich neben sie gesetzt, seine Augen waren warm, aber voller Ernst.
„Du bist nicht verrückt, Lyra“, sagte er leise. „Und du bildest dir das nicht ein.“
Sie hielt den Atem an.
„Was meinst du?“
Er seufzte tief.
„Manche Menschen… sind mit einer besonderen Gabe geboren. Deine Mutter und ich – wir gehören dazu. Und du auch.“
„Was für eine Gabe?“
„Du wirst es bald selbst herausfinden. Aber du musst stark sein. Es ist nicht ungefährlich, und nicht jeder darf davon wissen.“
Er legte eine Hand auf ihre – fest, beruhigend.
„Du bist etwas Besonderes, Lyra. Du wirst es verstehen, wenn die Zeit reif ist.“
Später in der Nacht
Lyra lag im Bett, die Decke bis zum Kinn gezogen, das Herz hämmerte. In ihrem Kopf rauschten Gedanken – Worte ihres Vaters, das Bild des Pumas, das Gefühl im Gehege…
Dann kam der Traum wieder.
Sie rannte. Ihre Beine waren stark, ihr Atem gleichmäßig. Der Boden flog unter ihr dahin, Bäume zogen vorbei. Sie sah durch andere Augen – golden, scharf, instinktsicher. Als sie zum Wasser lief, beugte sie sich hinunter – und in der spiegelnden Oberfläche sah sie das Gesicht eines Pumas.
Sie schreckte hoch. Schweißperlen auf der Stirn. Der Traum… fühlte sich so echt an, dass sie kurz ihre Hände beäugte, als müssten dort Krallen wachsen.
Langsam stand sie auf, schlich zur Schlafzimmertür ihrer Eltern. Sie klopfte vorsichtig.
„Mama? Papa? Ich… ich hab etwas geträumt. Aber es war so echt… Ich war ein Puma. Ich war es wirklich…“
Ihre Eltern sahen sich erneut an. Diesmal länger.
Ihr Vater nickte kaum sichtbar.
„Dann ist es Zeit.“
Ende Kapitel 1
🖊️ Lyra beginnt den Ruf ihrer Seele zu hören. Die ersten Schatten der Wahrheit zeichnen sich ab – der Weg der Tierseelen hat begonnen.