📖 Kapitel 10 – Sommerfäden
Der Morgen war mild und weich, wie ein seidener Schleier aus Licht, der sich über die Stadt legte. Die Fenster ließen warmes Sonnenlicht auf den Boden fallen, und die Luft roch nach blühenden Bäumen und dem Duft eines neuen Tages. Yunari stand am Fenster, barfuß, die Stirn an die Scheibe gelehnt, während sie dem Leben draußen zusah. Autos zogen gemächlich vorbei, Kinder lachten auf dem Gehweg, irgendwo öffnete jemand ein Fenster mit einem leisen Klacken. Es war dieser seltene Moment zwischen Frühling und Sommer – wenn alles zu atmen schien.
Sayuri trat leise zu ihr. Sie trug noch immer das einfache, silberne Oberteil, das sie bei der Übertragung angehabt hatte – es war funktional, fast ein wenig klinisch. Eine Erinnerung an ihr früheres Selbst. Sie bemerkte Yunaris Blick, der sich einen Moment auf dem Stoff verfing.
„Es passt irgendwie nicht mehr zu mir“, sagte Sayuri ruhig, fast fragend, als hätte sie diesen Gedanken erst in dem Moment selbst formuliert.
Yunari drehte sich um, ein Lächeln spielte auf ihren Lippen. „Dann ändern wir das.“
Sayuri blinzelte. „Wie meinst du das?“
„Wir gehen raus. Einkaufen. Und ich will ein Kleid.“
Sayuris Augen weiteten sich leicht – verwundert, aber auch neugierig. „Ein Kleid?“
Yunari lachte, ein warmer, heller Ton. „Ja. Eines, das fließt, das leicht ist… etwas, das tanzen kann, wenn der Wind durch die Straßen zieht.“
Sie zogen sich um – nicht stilvoll, nicht schick, einfach funktional. Jeans, Shirts, flache Schuhe. Und dann verließen sie das Gebäude, gemeinsam, in einem stillen Einverständnis, dass dieser Tag anders werden sollte. Nicht von Erinnerungen diktiert. Nicht von der Cloud. Sondern von Gefühl.
Die Einkaufsstraße war belebt, aber nicht hektisch. Boutiquen reihten sich an kleine Cafés, und bunte Markisen warfen bewegte Schatten auf den Gehweg. Sayuri hielt sich zuerst etwas zurück – ihre Augen glitten über die Auslagen, über Mannequins mit ausgestellten Röcken, flatternden Ärmeln, schmalen Gürteln. All das hatte sie früher gesehen. Aber noch nie gespürt.
Yunari zog sie sanft mit sich. Sie hatte ein Ziel. Ein kleiner Laden in einer Seitenstraße, fast unscheinbar, aber mit einem Schaufenster, das Liebe ausstrahlte: handgemachte Kleider, Stoffe mit floralen Mustern, weiche Farben, keine Massenware. Der Geruch von Baumwolle und Lavendel empfing sie.
Die Verkäuferin war freundlich, älter, mit grauen Locken und einer Stimme wie Vanille. Sie sagte nichts weiter, nur ein Nicken – ein stilles Willkommen, das kein Urteil enthielt.
Yunari verschwand in der Kabine mit einem blauen Sommerkleid, das an den Ärmeln leicht gerafft war und sich an der Taille wie von selbst formte. Als sie heraustrat, hielt sie einen Moment inne, betrachtete sich im Spiegel. Es war das erste Mal seit dem Tausch, dass sie sich wiedererkannte. Nicht nur in Haltung oder Lächeln – sondern gefühlsmäßig.
„Das bist du“, sagte Sayuri leise. Und dann – nach einem kleinen Moment – fügte sie hinzu: „Und es steht dir.“
Yunari drehte sich zu ihr. „Du solltest auch etwas probieren.“
Sayuri zögerte. „Ich weiß nicht, was mir steht. Oder ob ich… das wirklich tragen will. Ich bin… ich war nicht gemacht, um so zu fühlen.“
„Du bist jetzt. Du darfst alles fühlen.“
Sie half ihr, suchte gemeinsam mit ihr. Schließlich entschied sich Sayuri für ein weißes Kleid mit einem leichten, fast flüssigen Stoff. Es hatte keine Muster, keine Schnörkel – es war einfach, aber elegant. Als sie aus der Umkleide trat, herrschte kurz Stille.
Sayuri sah in den Spiegel. Ihre Finger glitten über das Material. „Es ist… leicht.“
„Und wunderschön“, sagte Yunari, ohne zu zögern.
Sayuri drehte sich einmal, langsam. Das Kleid folgte jeder Bewegung wie ein sanfter Schatten.
„Ich fühle es… an meiner Haut. Der Stoff. Der Wind. Das… ist neu. Es ist mehr als nur ein Sensorwert. Es ist… real.“
Sie gingen später gemeinsam durch die Straßen, beide in ihren neuen Kleidern. Die Leute sahen sie nicht an – nicht wirklich. Für die Welt waren sie einfach zwei junge Frauen, die einen Sommertag genossen. Sie tranken Eistee, aßen Fruchtkuchen in einem Café mit roten Stühlen, lachten über die Kälte des Eises auf der Zunge, die klebrigen Finger, die sich dann wieder hielten.
Und irgendwann sagte Sayuri leise, fast in einem Gedanken:
„Ich glaube… ich mag es, eine Frau zu sein.“
Yunari schaute zu ihr, überrascht, aber nicht verwundert. „Ich auch.“
Sie kamen lachend in die Wohnung zurück, die Tüten klimperten sanft beim Abstellen. Der Duft von sommerwarmer Luft hing an ihren Haaren, an den Stoffen ihrer neuen Kleider, an ihrem Lächeln.
Später, barfuß auf dem Sofa, während ihre Kleider locker über ihre Beine fielen, als gehörten sie schon immer zu ihnen, saßen sie in wohliger Stille nebeneinander. In der kleinen Teekanne dampfte frische Zitronenmelisse. Die Fenster waren geöffnet, die Geräusche der Stadt klangen gedämpft herauf.
Yunari drehte den Kopf leicht zu Sayuri. Ihre Stimme war ruhig, ehrlich.
„Ich muss dir was sagen, Sayuri.“
Sayuri blickte auf, ein Hauch von Neugier in ihren Augen.
„Heute war das erste Mal seit dem Tausch, dass ich mich nicht mehr… anders gefühlt habe. Nicht wie jemand, der irgendwo nicht hingehört. Ich war einfach ich. Mit dir. Und das hat sich richtig angefühlt.“
Sayuri sah sie lange an. Dann lächelte sie sanft.
„Mir ging es genauso“, sagte sie leise. „Ich hab immer gedacht, ich würde diesen neuen Körper ständig analysieren, als wäre ich noch das Programm, das verstehen will. Aber heute war ich einfach… ich. Frei. Leicht. Kein Etikett, keine alten Routinen.“
Yunari legte ihre Hand auf Sayuris. „Wir waren einfach zwei Frauen. Und ich glaube… vielleicht war das der eigentliche Schritt, den wir beide machen mussten.“
Sayuri nickte, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch. „Und wir sind ihn gemeinsam gegangen.“
Am Abend, als die Sonne sich orange über die Dächer senkte, hingen die Kleider über der Stuhllehne, als wären sie selbst zu einem Teil ihrer Geschichte geworden. Nicht viel war passiert. Keine Flashbacks, keine technischen Eingriffe, keine Cloud-Eingriffe.
Aber dafür ein anderer Fortschritt: Die Erkenntnis, dass sie beide mehr waren als das, was einmal war – oder was geplant gewesen war. Sie waren Frauen mit Vergangenheit. Und Frauen mit Zukunft. In Kleidern, die leicht tanzten, wenn der Wind sich regte.
🌸 Ende von Kapitel 10