📘 Kapitel 9 – Zukunft schreiben

Die Tage nach ihrem gemeinsamen Ausflug vergingen langsamer, als hätte die Zeit selbst beschlossen, den beiden Raum zum Atmen zu geben. Sayuri verbrachte Stunden auf dem Balkon, las in alten Büchern, die sie früher nur archiviert hatte – nun aber fühlte. Yunari arbeitete hin und wieder an der Konsole, überprüfte alte Dateifragmente, sicherte neue Backups – doch alles mit einer sanften Achtsamkeit, die vorher undenkbar gewesen wäre. Etwas hatte sich verändert. In beiden. Und in dem, was sie verband.

Eines Morgens, als die Sonne sich durch den leichten Nebel der oberen Stadtteile kämpfte, war es Sayuri, die das Gespräch begann.

„Yunari…“

„Hm?“ Yunari saß auf dem Boden, den Rücken gegen die Wand gelehnt, eine dampfende Tasse in der Hand.

„Was… wenn wir aufhören, nur rückwärts zu schauen?“

Yunari blinzelte. „Wie meinst du das?“

„Die ganze Zeit rekonstruieren wir. Erinnerungen, Entscheidungen, Versionen von uns selbst. Aber was, wenn wir stattdessen anfangen… neue Erinnerungen zu bauen? Bewusst. Für uns. Ohne die Cloud.“

Yunari stellte die Tasse ab. Ein leichtes Kribbeln lief ihr über den Rücken. „Du meinst, wir schreiben unser eigenes Protokoll?“

Sayuri nickte. „Eins, das nicht rekonstruiert, sondern… erschafft.“

Sie richteten sich gemeinsam eine kleine Werkbank ein – nicht technisch, nicht digital. Analog. Skizzenblätter, handschriftliche Notizen, Zeichnungen, Kartenfragmente. Sie wollten wissen, wer sie jetzt waren. Nicht durch Daten, sondern durch Taten.

Yunari schrieb Worte auf ein leeres Blatt:

Was bin ich, wenn ich nicht bin, wer ich war?

Darunter schrieb Sayuri, in etwas zittriger Handschrift:

Vielleicht endlich frei.

In den folgenden Tagen sprachen sie über neue Ziele. Sayuri, die wissen wollte, wie es sich anfühlt, einem Kind etwas beizubringen – weil sie in der Cloud oft Bildungsroutinen simuliert hatte, aber nie ein echtes Kind gesehen hatte. Yunari, die immer davon geträumt hatte, einmal eine Reise zu machen – nicht digital, nicht simuliert, sondern physisch, mit allem, was dazugehört: Müdigkeit, Umwege, Überraschungen, neue Gerüche.

Sie fingen an, eine Route zu planen. Eine reale. Ein Gebiet auf der Erdoberfläche, das einst verlassen war, nun aber wieder bewohnbar gemacht wurde: Elios. Dort sollte eine kleine Siedlung entstehen – ein Ort für Menschen, die der Cloud den Rücken kehren wollten. Oder… sie neu definieren.

„Wir könnten helfen, etwas aufzubauen“, sagte Yunari eines Abends, als sie gemeinsam auf der Couch lagen.

Sayuri legte ihren Kopf an ihre Schulter. „Wir könnten eine Geschichte anfangen, statt nur aufzudecken.“

Und genau das taten sie.
Sie begannen, sich vorzubereiten. Körperlich, mental. Sie reduzierten ihre Anbindung an die Cloud – schalteten nicht alles ab, aber begrenzten es. Keine Erinnerungsvorschläge mehr. Keine automatische Synchronisation. Nur noch sie selbst – und ein minimalistischer Speicher für Notfälle.

Es war ungewohnt, sich nicht mehr auf den Komfort der allgegenwärtigen Intelligenz zu stützen. Entscheidungen wurden wieder schwerer. Tage wirkten leerer. Und doch… war es genau das, was sie suchten.

An einem Abend, als sie über die neue Karte gebeugt waren, die Route nach Elios skizzierend, hielt Sayuri plötzlich inne.

„Yunari…“

„Hm?“

„Ich weiß jetzt, warum du damals den Tausch wolltest.“

Yunari blickte sie an, ihre Augen suchten Sayuris Gesicht nach Anzeichen von Schmerz oder Wut ab – aber fanden nur Wärme.

„Nicht weil du weglaufen wolltest. Sondern weil du ankommen wolltest. In dir selbst. Und du hast geglaubt, dass du es nur als ich konntest.“

Yunari senkte den Blick. „Vielleicht… habe ich mir das eingeredet. Aber du hast recht. Ich dachte, du bist das stärkere Ich von uns. Die klarere Version.“

Sayuri lächelte. „Dabei waren wir beide nur… unvollständig.“

Sie berührte Yunaris Brust – über dem Herzen. „Aber jetzt sind wir es nicht mehr.“

Und in dieser Nacht, ohne Cloudverbindung, ohne Projektionen, ohne Erinnerungsfragmente, schrieben sie das erste echte Kapitel ihres neuen Lebens. Gemeinsam. Echt.

Kapitel 9 – Ende.

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