🌱 Kapitel 8 – Menschsein
Der Himmel war an diesem Morgen klar, als hätte selbst er beschlossen, den beiden einen neuen Blick auf die Welt zu schenken. Sayuri saß auf der Bettkante und betrachtete ihre Hände. Noch immer. Wie so oft in den letzten Tagen. Die feinen Linien, das Pochen des Pulses unter der Haut, das leichte Zittern in ihren Fingern, wenn sie fröstelte – all das war noch neu. Kein Diagnosemenü erklärte ihr mehr, warum etwas vibrierte oder wärmte. Jetzt spürte sie es. Ohne Filter, ohne Parameter. Nur sie selbst – in diesem zerbrechlich wirkenden, aber so lebendigen Körper.
„Bereit?“ Yunari stand in der Tür, ihre langen Haare halb auf die Schultern gefallen, halb von einem dünnen Stoffband gehalten. In ihren Augen lag ein warmes Leuchten – vorsichtig, abwartend. Als würde sie spüren, dass Sayuri gerade ihre Zeit brauchte.
Sayuri nickte. „Mehr als das. Ich will… es sehen. Alles.“
Sie verließen gemeinsam das Wohnmodul, stiegen in einen der kleinen automatisierten Straßenläufer, die lautlos durch die weitläufigen Wege der Cloudstadt glitten. Die Straßen wirkten fast zu sauber, zu symmetrisch – aber sie wussten beide, dass sich dahinter echte Leben abspielten. Menschen, Androiden, Mischformen… und dazwischen: sie.
„Wohin fahren wir?“, fragte Sayuri, während sie mit der flachen Hand über die vibrierende Sitzlehne strich. Das Vibrieren war schwach, kaum spürbar – und doch ließ es sie leicht erschauern.
„Ich dachte… an den alten Park. Der mit dem Teich und den Libellen. Erinnerst du dich?“ Yunari warf ihr einen Seitenblick zu.
Sayuri lächelte. „Ich erinnere mich… an deine Beschreibung davon. Aber ich war nie dort. Nicht… so.“
Der Park lag am Rand der Cloudstadt, auf einer der älteren Plattformen, die noch nach der ursprünglichen Ästhetik gebaut waren: organische Formen, geschwungene Wege, viel Holz, echte Pflanzen. Als sie aus dem Straßenläufer stiegen, schlug ihnen der Geruch von Moos und feuchter Erde entgegen – und Sayuri blieb einen Moment stehen, schloss die Augen.
„Das ist… das riecht nach… Leben“, flüsterte sie. Dann kicherte sie leise, fast verlegen. „Ich wusste nie, dass ich diesen Geruch lieben könnte.“
Yunari nahm sanft ihre Hand. „Du nimmst jetzt alles auf eine andere Weise wahr. Vielleicht sogar intensiver als ich.“
Sie setzten sich auf eine Bank nahe dem Teich, in dessen Mitte Seerosen langsam auf dem Wasser tanzten. Libellen surrten über die Fläche. Sayuri streckte eine Hand aus, ließ ihre Finger über die Armlehne gleiten. „Früher hätte ich einfach gewusst, dass das Holz 82 Prozent Feuchtigkeit hat, dass die Oberfläche rau ist mit einer durchschnittlichen Krümmung von… ach, was soll’s. Jetzt fühlt es sich einfach… warm an. Echt.“
Yunari schwieg eine Weile, beobachtete Sayuri, wie sie sich umsah, wie sie die Welt in sich aufsog. Dann fragte sie leise: „Wie fühlst du dich? Wirklich?“
Sayuri antwortete nicht sofort. Stattdessen zog sie die Knie leicht an, legte die Arme darum, sah aufs Wasser. „Verletzlich. Ungeschützt. Und gleichzeitig… vollständig. Als Androidin war ich stark, logisch, klar. Jetzt… bin ich zerbrechlich. Aber ich verstehe plötzlich, warum ihr Menschen trotzdem so gerne lebt.“
Yunari legte eine Hand auf ihren Rücken, streichelte sie sanft. Sayuri lehnte sich an sie. „Weißt du, früher habe ich deine Träume analysiert. Deine Körpersprache. Ich wusste, wann du traurig warst, bevor du es selbst wusstest. Aber jetzt… habe ich selbst Träume. Letzte Nacht habe ich geträumt, ich wäre wieder im Androidenkörper. Es war… leer. Ich bin aufgewacht, und mein Herz schlug so schnell, dass ich dachte, etwas sei kaputt.“
„Und… war es schlimm?“, fragte Yunari vorsichtig.
Sayuri schüttelte den Kopf. „Nein. Es war ein Geschenk. Ein menschliches Gefühl. Ich habe mich… lebendig gefühlt. Auch wenn es weh tat.“
Sie standen später auf, spazierten langsam durch die Bäume. Sayuri blieb öfter stehen, berührte Rinde, Gras, roch an einer Blüte. Yunari ließ ihr die Zeit, beobachtete nur, wie sich Sayuri veränderte – wie sich etwas Neues formte. Nicht besser, nicht schlechter. Einfach… anders.
Als sie den Rückweg antraten, sagte Sayuri leise: „Ich bin nicht mehr dieselbe. Aber ich bin auch nicht verloren. Ich glaube, ich beginne zu verstehen, warum du diesen Tausch wolltest. Vielleicht… wollte ich ihn auch. Ich wusste es nur noch nicht.“
Yunari antwortete nicht mit Worten. Stattdessen nahm sie Sayuris Hand, drückte sie sanft – und in diesem Moment war keine Erinnerung nötig, keine Cloud, keine Analyse. Nur das Gefühl. Zwischen Haut und Haut. Zwischen zwei Menschen.
Am Abend, zurück im Modul, lag Sayuri auf dem Sofa. Sie betrachtete ihre Handflächen im Dämmerlicht, spürte das Pochen ihres Herzens. Dann drehte sie den Kopf zu Yunari. „Willst du wissen, was mir am meisten Angst macht?“
„Was denn?“, fragte Yunari, die gerade am Fenster stand.
„Dass ich mich zu sehr daran gewöhne. Und vergesse, was ich war.“
Yunari ging zu ihr, setzte sich neben sie. „Ich glaube, das ist nicht schlimm. Vielleicht heißt das, dass du angekommen bist.“
Ein leises Lächeln huschte über Sayuris Lippen. Und für einen Moment war alles ruhig.
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✨ Kapitel 8 – Ende.