🧠 Kapitel 6 – Zwischen den Welten

Die nächste Nacht kam schwerer als die letzte. Yunari lag lange wach, während Sayuri neben ihr schlief – diesmal wirklich schlief. Der menschliche Körper hatte seine eigenen Rhythmen, seine eigene Trägheit, und Sayuri hatte sie angenommen wie eine zweite Haut. Für Yunari war das alles immer noch ein Paradox. Sie war es gewohnt, Dinge zu hinterfragen, zu analysieren, auseinanderzunehmen – aber das hier war kein Code. Es war ihr eigenes Leben.

Am Morgen, nachdem Sayuri mit zerzaustem Haar und noch halb geschlossenen Augen einen Kaffee trank, saßen sie sich wortlos gegenüber. Die Stille war kein Zeichen von Kälte – eher von Tiefe. Alles war bereits gesagt. Fast.

„Ich glaube, ich bin nicht mehr ganz ich selbst… und gleichzeitig mehr ich denn je“, murmelte Yunari irgendwann und sah auf ihre eigenen Finger, als könne sie dort den Code ihrer Seele erkennen.

Sayuri hob langsam den Blick. „Dann ist es Zeit.“

„Für was?“

„Für den nächsten Schritt.“
Sie stand auf, griff zum Terminal in der Wand – ein schlichtes schwarzes Feld, eingelassen in eine matte Oberfläche – und fuhr es mit einem Fingerswipe hoch. Der Bildschirm erwachte lautlos zum Leben.

Yunari trat näher, spürte ein seltsames Kribbeln im Rücken. Eine Mischung aus Neugier und Unbehagen.
„Du willst… die Cloud öffnen?“

Sayuri nickte langsam. „Dein Backup existiert dort. Und meins auch. Nicht in Form kompletter Abbilder, sondern als fragmentierte Erinnerungspakete. Gedanken, die wir bereit waren zu teilen. Erinnerungen, die wir freiwillig hochgeladen haben. Sie warten nur auf deine Zustimmung.“

„Und was… passiert, wenn ich sie öffne?“

„Du wirst beides sehen. Deine Vergangenheit – und meine. Aber sie werden sich nicht einfach anfühlen wie alte Erinnerungen. Sie können sich anfühlen wie… Träume. Oder wie fremde Gedanken in deinem Kopf. Die Systeme gleichen sie ab, ordnen, priorisieren, überlagern. Es kann dauern.“

Yunari nickte langsam.
„Ich will es trotzdem.“

Ein biometrischer Scan. Ein schwebender Kreis, der ihr Handgelenk sanft abtastete.
Dann öffnete sich auf dem Bildschirm eine symbolhafte Darstellung: zwei ineinander verschlungene Kreise, wie zwei Seelen in einem Tanz. In der Mitte: ein leuchtender Punkt.

„Identitätsprotokoll aktiv.“

Die Stimme war neutral, künstlich – aber nicht kalt. Sie erinnerte Yunari an ihre frühere Stimme. Die Androidenstimme. Sie fröstelte.

Dann begannen die Datenströme.


Zuerst kamen nur Bilder. Flüchtige Szenen. Yunari, wie sie sich im Spiegel betrachtet, noch als Mensch. Sayuri, wie sie an einem Fluss steht, künstlich und wunderschön. Ein Moment, in dem beide gemeinsam durch die Stadt gingen, während es regnete – das war nicht gespeichert gewesen in Yunaris bewusstem Gedächtnis. Aber es fühlte sich echt an.

Es war, als würde sie ihr altes Ich aus dritter Person beobachten. Mit jedem Fragment fühlte sie sich weniger fremd und doch auch… gespaltener.
Manche Gedanken kamen ihr vertraut vor. Andere… wie von jemand anderem geschrieben.

„Ich habe Angst vor der Leere nach dem Tod.“
Das war Sayuri.
„Ich will dich nicht verlieren, wenn ich gehe.“
Auch das war sie.
Aber auch Yunari selbst hatte Gedanken abgelegt, vor dem Wechsel.

„Vielleicht bin ich nur im falschen Körper geboren.“
„Was, wenn ich als Android mehr sein kann als als Mensch?“

Tränen stiegen ihr in die Augen. Nicht wegen des Schmerzes – sondern wegen der Ehrlichkeit.


Später, in den Abendstunden, lagen sie auf dem Sofa. Das Interface war längst in den Ruhemodus übergegangen. Yunari hatte ihre Stirn gegen Sayuris Schulter gelegt.

„Ich weiß jetzt, warum ich es getan habe“, flüsterte sie schließlich.

Sayuri atmete ruhig. „Sag es mir.“

Yunari zögerte – dann:
„Weil ich mich als Mensch immer nur halbfertig gefühlt habe. Nicht falsch. Aber… als würde mir ein Teil fehlen. Nicht, weil ich dich bewundert habe. Sondern weil ich gesehen habe, was ich sein könnte, wenn ich aufhöre, mich an Grenzen zu halten.“

Sie legte eine Pause ein.
„Und weil ich dir das gleiche schenken wollte. Einen echten Körper. Echte Erfahrungen.“

Sayuri zog sie enger an sich. „Es war das größte Geschenk. Auch wenn ich am Anfang dachte, ich verliere dich…“

Yunari sah sie an.
„Du hast mich nie verloren. Ich bin noch hier. Vielleicht… mehr als je zuvor.“


🧠 Kapitel 6 – Ende

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