📖 Kapitel 4 – Das fehlende Puzzleteil
Der Tag war still. Nicht im äußeren Sinn – draußen summte die Stadt wie immer, leuchtende Drohnen zogen Linien über den Himmel, Stimmen hallten von den Fassaden. Aber zwischen Yunari und Sayuri hatte sich eine leise, unangenehme Stille eingenistet.
Seit dem Erinnerungssync hatte sich etwas verändert.
Yunari war schweigsamer geworden. Ihre Blicke länger, abwesender. Als würde sie versuchen, aus jedem Schatten eine Wahrheit zu ziehen, die sich nicht greifen ließ.
Sie saß in der kleinen Nische am Fenster, die Knie angezogen, obwohl ihr Körper keine echte Müdigkeit kannte. Der Bildschirm ihres Tablets leuchtete schwach. Darauf: ein halbgeladenes Menü eines alten VR-Spiels. Der Titel blinkte: „Soulbound – Trust Test Protocol.“
Sayuri trat ein, zögernd. In der Hand eine Tasse, diesmal mit Grüntee – einfach, vertraut.
„Ich hab gesehen, dass du das wieder geöffnet hast.“
Yunari antwortete nicht sofort. Dann, ohne aufzusehen:
„Das war es, oder? Das Spiel, in dem wir den Körpertausch geplant haben.“
Sayuri stellte die Tasse ab, ihre Stimme vorsichtig.
„Wir haben es damals entwickelt… gemeinsam. Als Test. Um zu sehen, wie es sich anfühlt. Die Regeln waren einfach – unsere Avatare lebten das Leben des jeweils anderen. Emotionale Simulationen. Entscheidungsphasen.“
„Und genau dort… ist es passiert.“ Yunari sah sie jetzt an, ein schwacher Schimmer in den Augen. „Ich erinnere mich nicht an den letzten Teil. Nur Fragmente. Nichts davon fühlt sich eindeutig wie meine Erinnerung an.“
Sayuri setzte sich zu ihr, etwas Abstand haltend.
„Du hast dich verändert. Schon damals, im Spiel. Du warst… zögerlicher. Als ob etwas in dir dagegen ankämpfte.“
„Ich weiß.“ Yunaris Stimme war leise, hart an der Kante zur Verzweiflung. „Und jetzt… fühle ich deine Erinnerungen. Deine Sicht auf mich. Deine Angst, mich zu verlieren. Deine Hoffnung, dass ich im neuen Körper freier wäre.“
Sie senkte den Blick. „Aber was ist mit meiner Angst? Ich kann sie nicht greifen. Sie ist wie ein Echo, das nicht antwortet.“
Sayuri schwieg.
Dann hob Yunari langsam das Tablet.
„Darf ich…? Ich möchte noch einmal ins Spiel. Vielleicht finde ich dort den Punkt.“
„Ich gehe mit dir“, sagte Sayuri sanft. „Aber nur, wenn du bereit bist.“
Sie tauchten gemeinsam in die Simulation ein. Die Welt von Soulbound war schlicht – weiße Räume, weichgezeichnete Umgebungen, Avatare ohne Gesichter, aber mit Stimmen, mit Gesten. Alles war darauf ausgelegt, Emotionen zu spüren, nicht zu sehen.
Yunari bewegte sich durch die Archive. Datenstränge schwebten wie Lichtbahnen um sie herum.
Dann, ein Glitch. Ein Flackern.
„Du willst das wirklich?“
Ihre eigene Stimme, verzeichnet.
„Wenn du gehst… wer kommt dann zurück?“
Sie blieb stehen. Erinnerungen fluteten sie – nicht als klare Bilder, sondern als Gefühle. Zweifel. Misstrauen. Der leise Drang, zu fliehen. Und gleichzeitig… Vertrauen. Wärme.
„Ich hatte Angst“, sagte sie. „Nicht vor dir. Sondern davor, dass ich mich verliere.“
Sayuri nickte. „Du hast es trotzdem getan. Für uns. Weil du wusstest, dass du es wolltest – auch wenn du nicht mehr sicher warst, wer du warst.“
Ein Moment der Stille.
Yunari stand da, mitten in der gläsernen VR-Simulation, während der Code um sie herum pulsierte.
Dann wandte sie sich Sayuri zu.
„Ich glaube… ich hab diesen einen Moment blockiert. Den Wechsel. Ich hab nicht vergessen – ich hab ihn verdrängt.“
Sayuris Gesicht wirkte weich.
„Dann hast du jetzt das fehlende Puzzleteil gefunden.“
Als sie die Simulation verließen, saßen sie lange nebeneinander. Keine Worte, nur ein ruhiges Verstehen.
Später am Abend, als Yunari allein im Badezimmer stand, betrachtete sie sich erneut im Spiegel. Nicht mehr mit Angst – sondern mit wachsender Neugier.
Ein Wort formte sich in ihrem Kopf, wie ein Schlüssel, der langsam das Schloss fand:
„Yume.“
Sie wusste nicht, warum es ihr kam. Aber es fühlte sich vertraut an. Wie der Name eines früheren Selbst.
💔 Fortsetzung folgt…