📖 Kapitel 20: Der Ruf der Tiefe
Die Wasser der Stadt Aqualyn lagen ruhig, fast zu ruhig. Überall glitzerten türkisfarbene Lichtreflexe an den Kristallbauten, während seltsame, fluoreszierende Pflanzen an den Mauern schimmerten. Es war schön – ja. Aber auch… fremd. Und seltsam still.
Jennifer, deren silberne Schwanzflosse inzwischen im Licht beinahe zu leuchten schien, sah sich um. „Ist euch auch so… komisch zumute?“ flüsterte sie. Ihre Stimme klang dumpf unter Wasser, als würde sie vom Ozean selbst verschluckt werden.
Kael nickte, seine Delfingestalt drehte unruhig Kreise. „Etwas beobachtet uns. Ich spüre es.“
Noch bevor jemand antworten konnte, verdunkelte sich das Licht. Die Welt um sie herum färbte sich in ein fahles Blau – wie ein plötzlicher Sonnenuntergang unter Wasser. Dann – ein Grollen. Tief. Vibrierend. Uralt.
Aus einem der großen Tunnel, der in die Tiefe der Meeresstadt führte, kroch ein Schatten. Kein Tier – sondern ein Wesen, das wie aus Stein gemeißelt wirkte. Riesig, mit Armen wie Tentakeln aus Ranken und Seegras, und leuchtenden Augen, die in alle Richtungen zu blicken schienen.
Taro, in Rabengestalt, flatterte panisch auf, bevor ihm einfiel, dass er ja unter Wasser war – sein Flügelschlag war nicht mehr als ein unsicherer Zucken seines Körpers. „Was… ist das!?“
„Das ist die Prüfung!“ rief eine fremde Stimme. Eine Frau näherte sich aus dem Inneren der Stadt – in einem majestätischen Körper aus Wasser, durch den kleine Fische schwammen, als wäre sie selbst Teil des Meeres. Ihr Name war Neriss. „Aqualyn prüft euch – ob ihr das Wasser nur nutzt… oder ob ihr es versteht.“
Jennifer spürte, wie ihr Herz zu rasen begann. Die anderen rückten näher zusammen.
Das Wesen erhob sich – kein Angriff, kein Laut. Nur dieses fordernde Starren.
Und in Jennifers Innerem ein Gefühl… eine Stimme?
„Was bist du bereit loszulassen… um ganz einzutauchen?“
Sie wusste nicht, woher es kam. Vielleicht aus ihr selbst. Vielleicht aus dem Wasser.
Und dann – traf es sie wie ein Blitz. Ihre Angst, ihre Unsicherheit… sie hatten sie bisher zurückgehalten. Sie war zwar eine Meerjungfrau geworden, aber nie ganz. Immer hatte sie den Menschenanteil behalten, aus Angst, sich zu verlieren.
Langsam sah sie an sich hinunter. Dann sah sie zu Kaela – deren Körper immer noch halb menschlich, halb fischartig war.
„Wenn ich’s nicht tue… wer dann?“ murmelte Jennifer.
Und mit einem letzten Atemzug der Entschlossenheit schloss sie die Augen – und ließ los.
Ihre Form begann sich zu verändern. Der menschliche Oberkörper wich. Flossen wuchsen über ihre Arme, ihre Bewegungen wurden geschmeidiger. Ihre Augen leuchteten kurz auf, als sie sich vollständig verwandelte – nicht mehr als Frau mit Fischschwanz, sondern als majestätisches, leuchtendes Meereswesen. Frei. Ganz. Furchtlos.
Die Kreatur vor ihnen – das uralte Wesen – blieb einen Moment lang still. Dann… verneigte es sich.
Kael atmete tief ein. „Jennifer… du hast es geschafft. Du bist eins geworden mit der Tiefe.“
Ein Gänsehautmoment. Nicht nur wegen des Erfolgs. Sondern weil sie alle spürten – dies war erst der Anfang. Die Tiefe hatte sie akzeptiert. Doch sie hatte auch ihre Geheimnisse noch nicht offenbart…
✨ Fortsetzung folgt in Kapitel 21…