Kapitel 6: Die Prüfung des Gleichgewichts
Am nächsten Morgen war die Luft kühl, und der Himmel zeigte die ersten Anzeichen eines kommenden Sturms. Taron führte die Gruppe zu einem geheimnisvollen Ort tief im Wald – einem Kreis aus alten, moosbewachsenen Steinen, die eine fast greifbare Energie ausstrahlten.
„Das hier ist ein Ort der Balance,“ erklärte Taron. „Er wurde von den ersten Gestaltenwandlern erschaffen, um die Harmonie zwischen ihren Kräften zu finden. Wenn du deine Gestalten vollkommen verstehen willst, Jennifer, musst du lernen, sie nicht nur einzeln, sondern auch zusammen zu nutzen.“
„Zusammen?“ Jennifer runzelte die Stirn. „Wie soll das funktionieren? Ich kann ja nicht gleichzeitig ein Vogel und eine Katze sein.“
Kaela lächelte sanft. „Nicht physisch. Aber die Essenz beider Gestalten kann in dir gleichzeitig präsent sein. Du kannst die Schnelligkeit und Instinkte des Pumas mit der Weitsicht und Leichtigkeit des Adlers verbinden. Es ist wie ein Tanz zwischen Himmel und Erde.“
„Und wie lerne ich das?“ fragte Jennifer skeptisch.
„Mit einer Prüfung,“ sagte Alric. „Keine Sorge, wir sind hier, um dich zu unterstützen. Aber der eigentliche Kampf wird in dir stattfinden.“
Jennifer trat in den Kreis und spürte sofort die Magie um sie herum. Es war, als würde der Boden unter ihren Füßen vibrieren, während der Wind sanft, aber eindringlich durch die Steine wehte.
„Schließe die Augen,“ forderte Taron sie auf. „Atme tief ein und konzentriere dich. Stell dir deine beiden Gestalten vor – Adler und Raubkatze. Spüre ihre Unterschiede, aber auch, wie sie sich ergänzen.“
Jennifer gehorchte. Sie schloss die Augen und stellte sich ihren Adler vor: die scharfen Augen, die weiten Flügel, das Gefühl, schwerelos über die Welt zu gleiten. Dann dachte sie an ihre Raubkatze: die kräftigen Muskeln, die geschmeidige Bewegung, die Verbindung zur Erde.
Plötzlich spürte sie, wie die Magie des Kreises stärker wurde. Ein seltsames Ziehen in ihrem Inneren begann, als würde etwas versuchen, die beiden Seiten in ihr auseinanderzureißen.
„Konzentriere dich!“ rief Kaela. „Lass dich nicht von der Trennung überwältigen. Du bist beides – und doch eins.“
Jennifer kämpfte gegen das Chaos in ihrem Geist an. Es fühlte sich an, als würden der Adler und der Puma gegeneinander kämpfen, jede Seite versuchte, die andere zu dominieren. Ihre Muskeln zitterten, und sie fiel auf die Knie.
Doch dann erinnerte sie sich an etwas, das Alric gesagt hatte: „Werde eins mit deiner Umgebung.“
Jennifer atmete tief ein und ließ die Bilder ihrer Gestalten los. Stattdessen stellte sie sich vor, wie der Wind durch die Bäume strich, wie die Erde unter ihr pulsierte. Sie hörte das Rauschen der Blätter, das Zwitschern der Vögel, das Rascheln eines Fuchses im Unterholz. Alles war miteinander verbunden – und sie war ein Teil davon.
Plötzlich beruhigte sich das Chaos in ihrem Inneren. Der Adler und der Puma waren nicht länger Gegner, sondern Partner. Sie spürte, wie ihre Sinne sich erweiterten: die Schärfe des Adlers und die Instinkte der Raubkatze verschmolzen zu einer Einheit.
Jennifer öffnete die Augen. Die Welt um sie herum war klarer als je zuvor. Sie konnte jeden Grashalm sehen, jedes Insekt hören, jede Bewegung fühlen. Sie sprang auf und verwandelte sich in einen Adler, doch noch bevor sie landete, nahm sie wieder die Gestalt der Raubkatze an – und zurück in einen Menschen. Es war ein fließender Übergang, als hätte sie das schon immer gekonnt.
Kaela klatschte begeistert in die Hände. „Das war großartig, Jennifer! Du hast es geschafft!“
Taron nickte zufrieden. „Du hast die Balance gefunden. Aber das war nur der erste Schritt. Jetzt musst du lernen, diese Verbindung auch im Kampf zu nutzen.“
Als die Sonne langsam unterging, führte Taron Jennifer zu einem offenen Feld. „Hier wirst du deine neuen Fähigkeiten testen,“ sagte er. „Ich werde dich angreifen, und du musst dich verteidigen – in allen deinen Formen.“
„Du willst mich angreifen?“ fragte Jennifer ungläubig.
„Keine Sorge,“ grinste Taron. „Ich werde mich zurückhalten. Ein bisschen.“
Taron verwandelte sich in seinen Drachen und startete einen Angriff, der gleichzeitig beeindruckend und beängstigend war. Jennifer spürte, wie ihr Herz raste, doch sie erinnerte sich an ihre Balance. Sie verwandelte sich in den Adler, stieg in die Luft, wich geschickt seinen Feuerstößen aus und nutzte den Wind zu ihrem Vorteil.
Als Taron plötzlich die Richtung änderte, verwandelte sie sich in die Raubkatze, landete elegant auf dem Boden und setzte mit einem Sprung zur Verteidigung an. Es war ein Tanz aus Instinkten, Kontrolle und Anpassung.
Nach mehreren Minuten kehrten beide in ihre menschliche Gestalt zurück. Jennifer keuchte, doch sie strahlte vor Freude. „Das war unglaublich!“
Taron klopfte ihr anerkennend auf die Schulter. „Du machst schnelle Fortschritte, Jennifer. Aber sei gewarnt: Die Schatten werden stärker sein als ich. Und sie werden nicht zurückhalten.“
Jennifer nickte. „Dann werde ich noch härter trainieren. Ich will bereit sein, wenn sie kommen.“