Kapitel 2: Die Wächter der Gestalten
Die Nacht war hereingebrochen, doch die Lichtung, auf der Jennifer stand, war von einem sanften, goldenen Schein erfüllt. Kaela und Alric traten näher, während Taron mit einem zufriedenen Lächeln zurücktrat, als wollte er den Moment Jennifer und den anderen überlassen.
„Du fragst dich bestimmt, welche Gestalten wir haben,“ begann Kaela. Ihr flammenrotes Haar schimmerte im Licht, und ihre Bernsteinaugen wirkten fast wie ein Feuer, das von innen brannte. „Meine Gestalt ist nicht ganz so elegant wie deine, Jennifer, aber dafür umso wilder.“
Sie schloss die Augen, und plötzlich begann ihr Körper sich zu verändern. Ihre Schultern wurden breiter, ihre Hände verwandelten sich in mächtige Klauen, und ihr Körper war bald mit dichten, flammenartigen Federn bedeckt. Mit einem ohrenbetäubenden Schrei breitete sie ihre Schwingen aus – sie war ein Phönix! Die Luft um sie herum flimmerte, als hätte ihre bloße Anwesenheit die Temperatur angehoben.
„Wow,“ flüsterte Jennifer ehrfürchtig, „du bist unglaublich.“
Kaela lachte und verwandelte sich zurück in ihre menschliche Gestalt. „Danke. Aber glaub mir, es ist nicht immer leicht, eine Gestalt zu haben, die so auffällig ist. Tarnung ist damit nicht gerade meine Stärke.“
Dann richtete sich Jennifers Blick auf Alric, der still in den Schatten stand. „Und du?“ fragte sie neugierig.
Alric trat vor, und seine grauen Augen schimmerten silbern wie der Mond. „Meine Gestalten sind… anders,“ sagte er leise. Ohne ein weiteres Wort ließ er seinen Kopf sinken, und sein Körper begann sich zu verändern. Seine Haut wurde zu einem dichten, glänzenden Fell, und seine Hände verwandelten sich in massive Pranken mit scharfen Krallen. Als er den Kopf hob, stand ein mächtiger Wolf vor Jennifer, mit einem Fell so grau wie Sturmwolken und Augen, die wie Sterne funkelten.
„Ein Wolf,“ flüsterte Jennifer. „Das passt zu dir.“
Doch Alric schüttelte den Kopf. Mit einer geschmeidigen Bewegung sprang er zurück in den Schatten, und als er wieder hervorkam, war er ein Falke – flink, klein und perfekt getarnt für die Nacht. „Ich habe zwei Gestalten,“ erklärte er schließlich, zurück in menschlicher Form. „Eine für die Jagd und eine für die Freiheit.“
Jennifer war beeindruckt. „Das ist unglaublich. Zwei so unterschiedliche Tiere…“
Taron räusperte sich und zog damit Jennifers Aufmerksamkeit auf sich. „Und was ist mit dir?“ fragte sie neugierig.
Er lächelte. „Ich bin ein Wächter, Jennifer. Meine Gestalten sind die Wächter selbst.“ Ohne weitere Erklärung verwandelte er sich vor ihren Augen. Sein Körper wurde zu einer riesigen, schuppigen Kreatur mit mächtigen Flügeln – ein Drache. Seine Augen leuchteten golden, und sein Atem glühte, als hätte er Feuer in der Brust.
Jennifer konnte kaum glauben, was sie sah. „Ein Drache,“ hauchte sie. „Du bist ein Drache.“
Taron verwandelte sich wieder zurück und sah sie ernst an. „Die Drachenwächter sind die Hüter des Gleichgewichts. Wir sind selten, und unsere Aufgabe ist es, diejenigen zu schützen, die die Gabe der Verwandlung haben.“
„Warum braucht es Schutz?“ fragte Jennifer.
„Weil es Menschen gibt, die unsere Kräfte für sich beanspruchen wollen,“ erklärte Kaela. „Nicht alle, die sich verwandeln können, nutzen ihre Gaben zum Guten.“
„Und manche…“ Alric machte eine Pause, als würde er mit sich ringen. „Manche Gestaltenwandler verlieren sich in ihrer Tierform. Sie vergessen, wer sie als Mensch sind, und werden nur noch von Instinkten beherrscht.“
Jennifer spürte einen Schauer über ihren Rücken laufen. „Und was ist meine Aufgabe in all dem?“
Taron legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Deine Aufgabe wird es sein, deine Kräfte zu entdecken und zu meistern. Du bist neu in dieser Welt, Jennifer, aber du trägst ein Erbe in dir, das größer ist, als du dir vorstellen kannst.“
„Ein Erbe?“
„Es gibt einen Grund, warum du Adler und Raubkatze als deine Gestalten hast,“ sagte Taron. „Der Adler steht für den Geist, der die Freiheit sucht, und die Raubkatze für die Kraft, die das Leben schützt. Beides zusammen macht dich zu etwas Besonderem. Du bist dazu bestimmt, die Welten miteinander zu verbinden – die Menschenwelt und die Welt der Gestaltenwandler.“
Jennifer fühlte sich von Tarons Worten überwältigt, doch gleichzeitig konnte sie ein prickelndes Gefühl der Aufregung nicht unterdrücken. Sie wusste, dass sie Teil von etwas Größerem war – und dass ihr Abenteuer gerade erst begonnen hatte.
„Also, was machen wir jetzt?“ fragte sie schließlich.
Kaela grinste. „Jetzt zeigen wir dir, wie du deine Kräfte nutzen kannst.“
Alric nickte und sah in den Himmel. „Und dann werden wir herausfinden, wer sich in den Schatten bewegt. Denn wir sind nicht allein hier.“
Jennifer folgte seinem Blick und sah, wie sich etwas am Rande der Lichtung bewegte. Ein Paar Augen funkelte im Dunkeln, und ein leises Knurren erklang.