Kapitel 5: Instinkte und Kontrolle

Am nächsten Morgen weckte Taron Jennifer mit einem Lächeln, das gleichzeitig herausfordernd und aufmunternd wirkte. „Heute beginnt dein Training,“ sagte er.

„Ich dachte, der Kampf gestern war schon Training genug,“ murmelte Jennifer, während sie sich aufrichtete und die Muskeln streckte, die immer noch ein wenig schmerzten.

„Das war Überleben,“ erwiderte Taron. „Was du jetzt lernen wirst, ist, wie du in deinen Gestalten nicht nur überlebst, sondern wirklich lebst – und sie meisterst.“

Kaela trat hinzu, eine Tasche aus grobem Stoff über der Schulter. „Es gibt keine bessere Art zu lernen als durch Erfahrung. Heute geht es um die Jagd.“

„Jagd?“ Jennifer spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Sie mochte die Vorstellung, in ihrer Raubkatzen- oder Adlergestalt wild und frei zu sein, aber die Idee, wirklich zu jagen, war etwas ganz anderes.

„Keine Sorge,“ fügte Kaela hinzu, als würde sie ihre Gedanken lesen. „Es geht nicht darum, zu töten. Es geht darum, deine Sinne zu schärfen und deine Instinkte zu verstehen.“

Alric, der gerade aus dem Wald trat, grinste breit. „Und Spaß macht es auch. Besonders, wenn du einen Wolf als Lehrer hast.“

Jennifer konnte nicht anders, als zurückzulächeln. „Na gut. Was soll ich tun?“


Kaela führte Jennifer zu einer weiten Lichtung, die von Bäumen umgeben war. „Fangen wir mit deinem Adler an,“ sagte sie. „Flug ist Freiheit, ja, aber auch Präzision. Ein Adler sieht die kleinste Bewegung aus Hunderten von Metern Entfernung und kann sie in Sekunden anvisieren.“

Jennifer nickte, schloss die Augen und konzentrierte sich. Sie spürte, wie die Verwandlung begann, wie ihre Knochen leichter wurden und ihre Arme sich in mächtige Flügel verwandelten. Als sie die Augen öffnete, war die Welt wieder anders – Farben waren intensiver, Bewegungen klarer, und ein Teil von ihr spürte einen Drang, sich in die Lüfte zu erheben.

„Los, flieg!“ rief Kaela.

Jennifer schlug mit den Flügeln, hob ab und fühlte sofort die Freiheit, die sie sich immer vorgestellt hatte. Der Wind trug sie, und sie konnte den ganzen Wald überblicken.

Doch Kaelas Stimme drang zu ihr durch: „Finde das Ziel!“

Jennifer drehte den Kopf und suchte den Boden ab. Zwischen den Bäumen sah sie eine kleine Bewegung – ein Kaninchen, das durch das Unterholz huschte. Ihre Adleraugen fixierten es automatisch, und sie spürte, wie ihre Instinkte sie antrieben. Sie zog die Flügel an und stürzte hinab.

Das Gefühl war berauschend, doch kurz bevor sie das Kaninchen erreichte, zog sie hoch und ließ sich wieder auf einen Ast sinken. Sie konnte nicht…

Kaela nickte anerkennend, als sie zu Jennifer aufblickte. „Gut gemacht. Du bist deinem Instinkt gefolgt, aber du hast ihn kontrolliert. Das ist die wahre Meisterschaft eines Gestaltenwandlers.“


Am Nachmittag war die Reihe an ihrer Raubkatzenform. Alric übernahm diesmal die Leitung, führte Jennifer zu einer felsigen Schlucht, die mit dichten Büschen übersät war.

„Als Puma bist du nicht nur stark, sondern auch unglaublich leise,“ erklärte er. „Der Schlüssel ist Geduld. Warte, beobachte und dann schlag zu.“

Jennifer verwandelte sich in ihre Raubkatzenform, ihre Sinne schärften sich. Sie konnte das Rascheln der Blätter hören, das Zwitschern der Vögel und sogar den leisen Herzschlag einer Maus, die sich unter einem Busch versteckte.

Alric bedeutete ihr mit einer Pfote, sich ruhig zu verhalten. „Fühle die Bewegungen um dich herum. Werde eins mit der Umgebung.“

Jennifer ließ sich auf die Lauer nieder, ihre Muskeln gespannt wie eine Feder. Als die Maus sich ein kleines Stück vorwagte, sprang sie – präzise und elegant. Doch sie landete knapp daneben, und die Maus verschwand blitzschnell im Unterholz.

„Nicht schlecht,“ sagte Alric mit einem schiefen Grinsen. „Aber du bist ein bisschen zu früh gesprungen. Versuch’s nochmal.“

Nach mehreren Versuchen – und einer guten Portion Ermutigung von Alric – gelang es Jennifer schließlich, die Maus zu fangen. Doch anstatt sie zu verletzen, ließ sie sie einfach frei.

„Das war beeindruckend,“ sagte Alric. „Nicht nur die Jagd, sondern auch, dass du sie gehen lassen hast. Du bist nicht nur ein Jäger, Jennifer – du bist eine Wächterin.“

Jennifer fühlte sich erschöpft, aber zufrieden. Sie hatte nicht nur ihre Instinkte getestet, sondern auch gelernt, sie zu kontrollieren.


Später am Abend, als die Gruppe um ein Lagerfeuer saß, blickte Taron zu Jennifer hinüber. „Du hast heute viel gelernt, aber das ist erst der Anfang. Die Dunkelheit wird nicht warten, bis du bereit bist. Und wir müssen uns beeilen.“

Jennifer nickte. Sie spürte, dass sie stärker wurde – nicht nur körperlich, sondern auch innerlich. Die Freiheit und Stärke ihrer Gestalten gaben ihr nicht nur Kraft, sondern auch Verantwortung.

„Ich werde bereit sein,“ sagte sie mit fester Stimme.

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