📖 Kapitel 12 – Die, die flog

Der Tag begann mit Sonne. Nicht nur Licht, sondern Wärme, fließend wie Wasser über Kaels Schultern. Lyra war mit ihren Eltern unterwegs – ein seltener Moment ohne sie, doch kein unangenehmer. Er hatte gelernt, das Alleinsein nicht mit Einsamkeit zu verwechseln.

Kael wanderte durch den Wald, erst zu Fuß, dann in der Luft. Seine Hybridgestalt war mittlerweile vertraut – der Übergang zwischen Mensch und Falke geschmeidiger als früher. Er fühlte sich leicht, als trüge ihn nicht nur der Wind, sondern auch etwas in ihm selbst.

Er war lange unterwegs. Über Baumwipfel hinweg, vorbei an Feldern, entlang eines kleinen Flusses, dessen Oberfläche wie Glas schimmerte. Und dann sah er es – einen Bussard.

Der Vogel wirkte… anders.

Nicht durch Größe oder Farbe. Aber durch etwas, das sich kaum greifen ließ – ein feines Ziehen in seiner Brust, ein ungewisses Flattern in seinen Gedanken.

Sie flog nicht davon, als er sich näherte. Stattdessen glitt sie in weitem Bogen neben ihm her.

Sie flogen.

Lange.

Und irgendwann… sprach er.

Nicht mit Worten, sondern mit einem Gefühl, das sich wie eine innere Stimme an sie richtete:
„Bist du… die Schwester meines Vaters?“

Die Antwort war keine Sprache. Kein Laut. Und doch verstand er sie.

Ein Gedanke, klar wie ein Sonnenstrahl zwischen den Bäumen:
„Ja. Ich bin es.“

Kael drosselte die Geschwindigkeit, glitt tiefer. Sie folgte. Gemeinsam setzten sie sich auf einen knorrigen Ast am Rand einer Lichtung.

Sie wirkte wie ein normaler Bussard – doch in ihren Augen lag etwas anderes. Tiefer. Menschlicher.

Da sprach sie mit Worten – nicht hörbar, sondern so klar in seinem Geist, als würde sie direkt in seine Gedanken fließen:

„Ich habe euch oft besucht. Von oben. Ich wollte wissen, wie es meinem Bruder geht. Wie du dich entwickelst. Ich sah dich wachsen, kämpfen, stürzen, aufstehen. Ich sah, dass du bist wie ich – zumindest zum Teil.“

Kael senkte den Blick. „Warum hast du nie mit ihm gesprochen? Er glaubt, du seist einfach… verschwunden.“

Sie schloss die Flügel enger an den Körper. „Ich habe mich entschieden. Damals. Es war keine Flucht. Es war ein Heimkommen. Als Mensch war ich… nicht ich. Zu eng. Zu laut. Zu falsch. Ich lebte im Takt der anderen, nie im eigenen. Aber in der Luft, da war ich zum ersten Mal frei.“

„Und du konntest dich einfach… entscheiden, nicht mehr Mensch zu sein?“

„Es war kein Schalter. Mehr ein Verblassen. Ich war immer länger als Bussard unterwegs. Erst ein Tag, dann drei, dann Wochen. Irgendwann hatte ich Angst zurückzukehren. Ich wusste nicht mehr, wie ich gehen soll. Wie ich sprechen soll. Ich war dann einfach… ich. Fliegend. Lautlos. Wachsam.“

Kael spürte den Wind über die Federn seiner Arme streichen. Es war ein Gefühl, das er kannte.

„Ich soll ihm also nichts sagen?“

Der Bussard sah ihn lange an. „Er würde es nicht verstehen. Nicht, weil er nicht will. Sondern weil er nie geflogen ist. Nie gespürt hat, was wir spüren. Für ihn wäre es Verlust. Für mich war es Rettung.“

Kael nickte. „Wie heißt du eigentlich?“

Ein sanfter Gedanke streifte ihn wie ein Windhauch:
„Thalya.“

Er nickte.
„Ich sag ihm nichts. Aber ich bin froh, dich kennengelernt zu haben.“

Ein letzter Blick. Dann breitete sie ihre Flügel aus.

„Und ich bin froh, dass du fliegst.“

Sie erhob sich in die Lüfte, als wäre sie nie dort gewesen. Kael schaute ihr nach, bis sie nur noch ein Punkt am Himmel war.

Dann atmete er tief ein – und folgte ihr, für einen Moment.
Nicht um sie zu suchen.
Sondern, um selbst zu fliegen.


Ende von Kapitel 12

Kael kehrte spät zurück. Kein Wort an diesem Tag handelte von Thalya, kein Blick verriet, was er gesehen hatte. Aber in seinem Inneren hatte sich etwas verändert – ein neues Stück Wahrheit, das nur ihm gehörte. Manchmal, wenn er zum Himmel blickte, fragte er sich, wie oft sie wohl schon über ihm geflogen war. Und ob sie gerade jetzt, in diesem Moment, vielleicht wieder dort oben war.

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