📖 Kapitel 22 – Zwischen Himmel und Erde

Der Morgen war kühl, aber klar. Ein zarter Hauch von Tau lag über den Gräsern, als Kael und Taro sich auf den Weg machten. Nicht weit – nur bis zur Anhöhe am Rand des Waldes, wo sich der Blick öffnete auf Felder, Hügel und einen weiten, wolkenlosen Himmel.

Taro saß auf einem Ast, den Kopf leicht geneigt. Seine schwarzen Rabenaugen wirkten ruhig, doch sein Blick war wachsam. „Bist du bereit?“

Kael nickte. Seine Flügel waren bereits sichtbar, halb ausgeprägt, halb verborgen unter menschlicher Haut. Es war diese Hybridform, die ihm vertraut war – aber nun fühlte sie sich… zu groß. Zu auffällig.

„Ich spüre die Tierseele klar“, murmelte er. „Aber sie bleibt… gebunden. Als würde sie nicht ganz vertrauen, dass ich sie loslassen kann.“

Taro flatterte auf Kaels Schulter, leise und unaufdringlich. „Vielleicht liegt es nicht am Tier in dir. Vielleicht liegt es daran, dass du es zu sehr willst, anstatt es einfach zu lassen.“

Kael schnaubte leise. „Klingt wie ein Spruch aus einem Raben-Kalender.“

„Oder aus deiner Zukunft“, erwiderte Taro trocken. Dann wurde seine Stimme sanfter. „Lass es mich dir zeigen.“

Er breitete die Flügel aus, erhob sich in einem weiten Bogen, ließ sich vom Wind tragen. Hoch, dann spiralförmig hinab, bis er nur knapp über dem Boden flog – mit Leichtigkeit, mit Vertrauen.

„Du willst Kontrolle“, rief Taro ihm zu. „Aber manchmal kommt die wahre Form, wenn du sie nicht kontrollierst!“

Kael schloss die Augen. Tief einatmen. Loslassen. Den inneren Impuls nicht zwingen, sondern fließen lassen. Er dachte nicht an seine Flügel. Nicht an seine Klauen. Nicht an seine Mischgestalt. Er dachte nur an den Wind. An Thalya. An Freiheit.

Und plötzlich – da war kein Ruck. Kein Schmerz. Nur ein sanftes Schwinden.

Als er die Augen öffnete, war der Wald nicht mehr groß. Die Gräser darunter wirkten wie Teppiche. Die Luft um ihn war warm, tragend. Seine Flügel – klein, leicht, spitz.

Er war ein Falke. Kein Mensch. Kein Mischwesen. Ein richtiger Falke.

Taro stieß ein zufriedenes „Kraah!“ aus. „Siehst du? Jetzt bist du nur noch Flug.“

Kael antwortete mit einem scharfen Ruf – und raste los. Er drehte Schleifen in der Luft, jagte durch eine enge Baumgruppe, schoss durch eine Nebelschwade, als hätte er nie etwas anderes getan.

Als sie schließlich gemeinsam landeten – beide wieder in menschlicher Gestalt –, atmete Kael tief durch. „Es war… anders. Still. Klar. Ich habe mich gefühlt wie ich – nur in einer neuen Sprache.“

Taro grinste. „Du lernst schnell.“

Kael sah zu ihm. „Ich musste es. Ich will mich nicht mehr verstecken müssen. Nicht vor Menschen. Nicht vor mir selbst.“

In der Ferne knackte ein Ast. Lyra trat aus dem Wald, ihre Augen wachsam, ihre Haltung angespannt. Sie wirkte aufgewühlt.

„Wir haben ein Problem“, sagte sie leise.

Bevor einer der beiden etwas sagen konnte, hielt sie ihnen etwas hin – ein Stück Stoff. Zerfetzt. Verbrannt an den Rändern. Und daran klebte der schwache Geruch von Asche und Ruß.

„Das stammt aus dem alten Grenzdorf. Es ist… verlassen. Plötzlich. Spurlos. Und jemand hat dort mit Tierseelenexperimenten gespielt.“

Kaels Augen verengten sich. „Was meinst du mit ‚gespielt‘?“

Lyra sah ihn an – ernst, klar. „Ich habe Spuren gefunden. Käfige. Und eine Aura… als wären dort Tierseelen gefangen worden. Keine Menschen. Nur Tierformen. Und sie haben geschrien.“


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Kapitel 22 – Ende
Freiheit ist keine Selbstverständlichkeit. Und manche jagen nach ihr – auf Wegen, die nie hätten betreten werden dürfen.

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