📖 Kapitel 16 – Worte im Moos

Es war schon später Nachmittag, als sich die Sonne tief über die Baumwipfel neigte und weiche, goldene Lichtbänder durch das Blätterdach sanken. In Elins Hütte war es ruhig geworden. Lyra saß auf einem geflochtenen Kissen und betrachtete die filigranen Holzschnitzereien an der Wand, während Kael sich in einem aus Stöcken und Tierfellen gefertigten Hängesessel sachte vor- und zurückbewegte. Elin bereitete stillen Tee aus getrockneten Kräutern zu, die sie zuvor eigenhändig gesammelt hatte. Der Duft von Minze und Waldmeister schwebte durch den Raum.

„Du lebst wirklich ganz allein hier?“ fragte Lyra schließlich, mit einem ehrlichen Staunen in der Stimme.

Elin lächelte, fast unmerklich, während sie drei einfache Tonbecher füllte. „Nicht ganz allein“, sagte sie leise. „Die Tiere sind da. Und die Bäume. Die erinnern mich oft an Dinge, die Menschen längst vergessen haben.“

Kael beugte sich leicht nach vorne. „Aber… vermisst du denn niemanden? Keine Familie? Keine Freunde?“

Elin schwieg kurz, dann setzte sie sich zu ihnen, die Beine im Schneidersitz, den Blick auf das flackernde Licht eines kleinen Öllämpchens gerichtet. „Früher schon. Ich habe mich oft gefragt, ob mit mir etwas nicht stimmt. Während andere lachten, sich stritten, Träume austauschten… wollte ich einfach nur in den Wald. Ich habe es versucht. Schule. Feste. Freundschaften. Aber es war, als wäre mein Herz immer ein paar Schritte hinter meinem Körper geblieben.“

Lyra runzelte die Stirn, nachdenklich. „Aber das heißt doch nicht, dass man alles aufgeben muss, oder?“

Elin sah sie an – ein Blick, tief und ehrlich, wie ein stiller Bergsee. „Ich habe nicht aufgegeben. Ich habe nur irgendwann angefangen, mich selbst zu wählen.“

Stille. Kein bedrückendes Schweigen, sondern ein feines, atmendes Innehalten. Selbst die Vögel draußen schienen kurz zu lauschen.

Dann nahm Elin einen Schluck Tee und sprach, fast flüsternd: „Meine Verwandlung kam spät. Ich war fast sechzehn, als ich zum ersten Mal gespürt habe, dass da etwas in mir erwacht. Es war nicht dramatisch. Kein Licht, kein Beben. Nur ein Moment, in dem ich im Dickicht stand und plötzlich wusste, dass ich nie wieder zurückwollte.“

„Wie war es?“ fragte Kael. „Die erste Verwandlung?“

Elin schloss die Augen. „Wie sich fallen lassen. Aber nicht in Angst – in Vertrauen. Ich wurde zu etwas, das ich schon immer war. Und in diesem Moment wusste ich, warum ich mich mein Leben lang fremd gefühlt hatte. Weil ich immer versucht hatte, jemand zu sein, der ich nie war.“

Lyra atmete leise durch. Sie verstand dieses Gefühl. Vielleicht nicht so tief, nicht so lange wie Elin, aber sie erkannte etwas in diesen Worten – ein Echo in ihrem eigenen Innern.

„Ich finde das mutig“, sagte sie schließlich.

Elin sah sie an, diesmal mit einem Lächeln, das wärmer war, weicher. „Danke. Die meisten nennen es eher… seltsam.“

„Dann kennen sie dich nicht“, meinte Kael ruhig.

Der Abend senkte sich sacht über die kleine Hütte. Draußen huschte ein Dachs durchs Unterholz, eine Eule rief in der Ferne. Und inmitten des weichen Lichts und der sanften Worte entstand etwas, das vielleicht nicht sofort Freundschaft war – aber Nähe. Verständnis. Ein Anfang.


Inmitten des stillen Waldes offenbart Elin ein Stück ihrer Seele – und zeigt, dass nicht jeder, der allein lebt, auch einsam ist. Manchmal ist Rückzug keine Flucht, sondern Heimkehr. Und vielleicht beginnt hier etwas Neues – nicht mit einem großen Knall, sondern mit einem Becher Tee und einem offenen Herzen. 🦌

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert