📖 Kapitel 10 – Stimmen aus der Vergangenheit

Heimwege und Herzfragen
Die Sonne hatte sich längst hinter den Baumwipfeln geneigt, als Lyra und Kael sich trennten – jeder auf dem Weg zurück zu seinem Zuhause. Doch in beiden hallten dieselben Fragen nach. Über Herkunft. Über Mütter. Und über das, was einst war – und nie ausgesprochen wurde.

Lyra trat durch die knarzende Holztür ihres Elternhauses. Der vertraute Duft von Kräutern lag in der Luft. Ihre Mutter stand in der Küche, die Hände im Spülwasser, der Blick nach draußen gerichtet, als hätte sie längst gewusst, dass Lyra kommt.

„Mama“, begann Lyra leise.

Die Frau zuckte nicht zusammen, drehte sich aber langsam um. Ihr Blick war ruhig, aber vorsichtig.

„Du hast heute gefragt, ob ich Angst hatte“, sagte Lyra. „Aber ich möchte wissen, warum du… aufgehört hast.“

Die Stille war weich, fast schützend. Dann:
„Ich war nie so stark wie du. Meine Wildkatze… sie war flink, wachsam, aber sie versteckte sich gern. Als dein Vater…“ Sie stockte. „Als er verwundet zurückkam, blutend, tagelang bewusstlos – da begriff ich, was es kosten kann. Ich hatte Angst, dich allein großziehen zu müssen. Also… habe ich es losgelassen.“

Lyra trat näher, ihre Stimme sanft. „Und vermisst du es?“

Ihre Mutter nickte nur. Tränen glitzerten in ihren Augen. „Manchmal träume ich noch von weichen Pfoten und dem Rauschen im Unterholz. Aber dann wache ich auf… und bin nur ich.“

Lyra nahm ihre Hand. „Du bist mehr, als du denkst.“


Kael betrat das Haus seiner Eltern mit vorsichtigen Schritten. Die Abendluft klebte ihm noch an der Kleidung, als er seine Mutter im Wohnzimmer fand, ein Buch in der Hand, Brille auf der Nase. Alles wie immer – und doch war heute alles anders.

„Mama“, sagte er. „Kann ich dich was fragen?“

Sie sah auf, überrascht. „Natürlich.“

Er setzte sich ihr gegenüber. „Hattest du… jemals eine Tierseele?“

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, aber es war nicht heiter. Es war traurig.

„Nein“, sagte sie. „Zumindest nicht so, wie du sie kennst. Ich habe mich nie verwandelt. Aber ich habe sie gespürt. In Träumen. In Momenten. Als hätte ich Flügel im Rücken, die nie wachsen wollten.“

„Und… woher habe ich dann meine?“

Sie schloss das Buch. Ihre Stimme war weich. „Manchmal, Kael, werden Dinge geboren, weil sie gebraucht werden. Nicht weil sie vererbt sind. Vielleicht war in dir Raum für etwas, das ich nie zulassen konnte. Vielleicht ist dein Vater ein Mensch, ich ein Mensch – aber du? Du bist du.“

Kael schluckte. „Also… war ich schon immer dazu bestimmt?“

„Oder du hast es dir selbst bestimmt“, sagte sie. „Was auch immer es ist – ich bin stolz auf dich.“

Ein stilles Lächeln zog sich über Kaels Gesicht.


🌕 In den Häusern, wo Fragen wachsen und Antworten flüstern, finden Lyra und Kael neue Wurzeln. Nicht jede Tierseele braucht einen Ursprung in Blut oder Namen – manchmal reicht ein offenes Herz und der Mut, zu fragen. Was auch immer einst verborgen war, beginnt nun sichtbar zu werden. Und mit jedem Schritt ins Licht wächst auch ihr Verständnis – füreinander, für sich selbst… und für das, was noch kommt.

Ende Kapitel 10

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