📖 Kapitel 6 – Kaels Entscheidung
Die Leere danach
Lyra war noch in der Luft, als Kael allein am Waldrand saß. Die Nacht war längst hereingebrochen, aber der Himmel glühte noch von ihrem Flug.
Er hatte sie gesehen – nicht nur den Adler. Sie.
Wie sie geworden war, was sie sein konnte.
Wie sie strahlte, ohne es zu wissen.
Und er?
Er war der Wolf. Erdgebunden.
Stark.
Wild.
Doch nun… zu schwer. Zu langsam.
Er blickte nach oben.
„Ich kann das nicht.“
Doch das war nicht wahr.
Er konnte nur noch nicht glauben, dass er es dürfen durfte.
Die Suche in sich selbst
Am nächsten Morgen war Kael früh unterwegs – allein, ohne Ziel.
Lyra ließ ihn ziehen. Sie spürte, dass dieser Kampf in ihm lag, tiefer als jeder, den Worte lösen könnten.
Er ging dorthin zurück, wo er zum ersten Mal mit seinem Vater Fährtenlesen geübt hatte – in ein altes Tal, abgeschieden und still.
Der Himmel dort war weiter, offener.
Er legte sich ins Gras, schloss die Augen.
Er erinnerte sich an den Traum, der ihn in der letzten Nacht geweckt hatte:
Ein Schatten über einer Klippe. Scharfe Augen. Federndes Atmen.
Ein Schrei, der nicht gebrüllt war – sondern geschliffen wie der Schnitt durch die Luft.
Ein Falke.
Nicht so groß wie Lyras Adler.
Nicht so erhaben.
Aber schneller. Wendiger.
Fokussierter.
Und in diesem Bild… sah er sich selbst.
Die Verwandlung
Er atmete tief.
Zum ersten Mal nicht aus Zweifel – sondern aus Klarheit.
Der Falke war nicht das Gegenteil des Wolfes.
Er war der Blick von oben, das Auge für das Ganze.
Er stellte sich vor, wie es sich anfühlen würde:
Der Wind unter seinen Flügeln.
Die Schärfe der Sicht.
Die absolute Freiheit.
Dann kam der Schmerz.
Doch diesmal war er willkommen.
Kael krümmte sich, die Muskeln spannten, Knochen dehnten sich –
Doch nicht zu einem Adler.
Nicht zu einem Vogel allein.
Ein Hybride.
Sein Körper blieb kräftig, menschlich in der Statur – aber seine Haut wurde glatt, seine Arme breit und gefiedert, die Hände krallten sich zu Flügelklauen, sein Gesicht streckte sich, der Blick wurde stechend.
Ein Falke, durchzogen vom Menschlichen.
Eine Gestalt, geschaffen für den Flug – und für den Kampf.
Schnell. Grazil. Wild.
Er stieg auf.
Das Wiedersehen in der Luft
Lyra wartete.
Sie wusste, dass es heute geschehen würde.
Als sie ihn sah, konnte sie nicht anders als zu lachen – ein schillerndes, glitzerndes Lachen, das durch die Luft trug.
Kael flog auf sie zu, ungestüm, beinahe zu schnell – doch elegant im letzten Moment, als würden seine Schwingen genau wissen, was sie tun.
„Du bist kein Adler“, rief sie, während sie in Spiralen umeinander kreisten.
„Ich bin ich“, antwortete er.
Sie flogen.
Tanzten durch die Wolken.
Tauchmanöver, Windspiele, Nebelbögen.
Und als sie nebeneinander auf einer Windströmung glitten, sprach sie leise:
„Du bist wunderschön da oben.“
Er antwortete nicht.
Aber sie spürte es in seiner Nähe – dass er es glaubte.
Der Ruf nach mehr
Als sie später auf einem Felsvorsprung landeten, beide in ihrer menschlichen Gestalt, schwitzend, lachend, atmend, war es Kael, der das sagte, was sie beide dachten:
„Wenn wir zwei Tierseelen haben… gibt es vielleicht noch mehr.“
Lyra nickte.
„Andere wie wir“, fuhr er fort.
„Oder… andere Formen in uns selbst.“
Sie sah in die Ferne.
„Dann suchen wir.“
Ende Kapitel 6
🖊️ Kael ist geflogen – nicht wie Lyra, sondern wie er selbst. Der Horizont ist nun größer als je zuvor. Und irgendwo dort draußen, jenseits der Wälder, warten Antworten.